„Die Konkurrenz lauert in der Nachbarstadt“: Boris Hedde zur IFH-Studie Vitale Innenstädte.

von Florian Treiß am 10.Juli 2017 in Interviews, News

„Das Vorurteil, dass man vor allem die ältere Generation in der Innenstadt antrifft, trifft definitiv nicht zu“, stellt Boris Hedde klar. Der Geschäftsführer vom IFH Köln zieht seine Erkenntnisse aus der Studie „Vitale Innenstädte“. Für die Untersuchung wurden in über 120 deutschen Städten aller Größen und Regionen zeitgleich Innenstadtbesucher zu ihren Einkaufsgewohnheiten und der Attraktivität der Innenstadt befragt. Insgesamt sind so rund 58.000 Interviews zusammen gekommen. Im Interview mit Location Insider verrät Hedde, was mit der „neuen digitalen Stadtverführung“ gemeint ist und wie digitale Dienste die Innenstädte attraktiver machen können.

Location Insider: Immer wieder erreichen uns aus den USA Nachrichten, dass der Handel in einem geradezu apokalyptischen Zustand ist. Ist es in Deutschland auch so schlimm, oder sind das generell überzeichnete Bilder?

Boris Hedde: Wir verzeichnen zwar in Deutschland auch Frequenzverluste in vielen Lagen, aber dass wir eine pauschale Verödung der Innenstädte hätten, das konnten wir in unserer Analyse nicht darstellen. Zumindest nehmen es die Innenstadtbesucher, die wir befragt haben, nicht so wahr. Jede Stadt ist gefordert, ihr eigenes Profil zu finden und das entsprechend auch auszuspielen. Aber man muss natürlich auch Mehrwerte liefern, denn der Wettbewerb ist da, und das ist ein Kern unserer Studie „Vitale Innenstädte“. Spannend dabei: das Zeitalter des lokalen Wettbewerbs hat begonnen. Wir haben uns früher immer Gedanken darüber gemacht, ob online gegen offline kämpft oder die grüne Wiese gegen die Innenstadt usw. Das sind alles Aspekte, die wir auch in dieser Studie dokumentieren können. Aber über alle möglichen Produktkategorien hinweg haben wir festgestellt, dass der Wettbewerb von Standorten viel ausschlaggebender ist. Die Konkurrenz lauert demnach in der Nachbarstadt.

Location Insider: Ist es denn so, dass in den Großstädten das Shopping in der Innenstadt noch ein Selbstläufer ist und nur die kleinen und mittleren Städte zu kämpfen haben? Oder haben alle zu kämpfen?

Boris Hedde: Natürlich haben Metropolen den Vorteil, dass sie grundsätzlich in der Attraktivität besser bewertet werden als viele kleinere Städte. Dieser grundsätzliche Vorteil der Vielfalt ist natürlich gegeben und er macht sich dann auch in der Attraktivität bemerkbar. Trotzdem kann man nicht pauschal sagen: nur wenn man groß ist, ist man attraktiv. Unsere Untersuchung zeigt eine Vielzahl an eher kleinen Städten, die es geschafft haben, in unterschiedlichen Dimensionen weit besser zu performen als so manche große Stadt. Es gibt keine Schablone für alle Städte, sondern die Erfolgsfaktoren müssen aus Sicht der Besucher einer Stadt bewertet werden. Und jede Stadt muss sich die Frage stellen: „Womit kann ich diese Dimensionen oder diese Kriterien am besten bedienen? Und wo habe ich meine Stärken, die ich wirklich ausleben oder vielleicht auch nochmal kommunizieren muss? Und wo habe ich Schwächen, an denen ich aktiv arbeiten kann?“ Es kommt darauf an, sich jedes einzelne Profil anzuschauen. Dann gibt es für Städte jeder Größe eine Chance sich sehr gut zu positionieren. Natürlich sind Orte im Vorteil, die touristisch oder baulich besonders attraktiv sind. Trotzdem haben wir auch gesehen, dass beispielsweise eine Stadt wie Langenfeld, die zwischen Düsseldorf und Köln liegt und es daher vermeintlich schwer haben dürfte, sich sehr gut behauptet und es geschafft hat, interessante Einzelhandelskonzepte aufzustellen.

Location Insider: Mir als Leipziger ist unsere Fußgängerzone oft zu voll und ich finde es daher entspannter, online einzukaufen. Kann eine Stadt also auch an ihrer eigenen Attraktivität scheitern?

Boris Hedde: Sehr gute Frage. Mit der Untersuchung ging es uns darum, anzuschauen, wie es in der Kernzielgruppe des heutigen stationären Einzelhandels in der Innenstadt aussieht. Und das sind natürlich die Passanten, die überhaupt in die Innenstadt kommen. Aber auch die haben wir gefragt, inwieweit die Möglichkeit online einzukaufen das Einkaufsverhalten beeinflusst. Etwas mehr als 18 Prozent gaben an, dass sie die Innenstadt seltener besuchen, weil sie die Möglichkeit haben, online einzukaufen. Die Motivlage dahinter, also ob es zu voll ist oder ob der Convenience-Aspekt ausschlaggebend ist, müsste noch einmal gesondert vertieft werden. Grundsätzlich sehen wir aber auch in der Kernzielgruppe des Vor-Ort-Geschäfts eine Affinität zum Onlinehandel. Das war sicherlich auch eine wichtige Erkenntnis der Studie: Es braucht einen Paradigmenwechsel, wenn es darum geht Frequenz zu erhalten oder zu bekommen. Nicht die Angst vor der Digitalisierung sollte im Fokus stehen, sondern genau anders herum. Wie kann die Digitalisierung aktiv genutzt werden? Wir sprechen dabei von der „neuen digitalen Stadtverführung“. Wie schaffe ich es eigentlich, die Anreize eines Stadtbesuchs über digitale Angebote zu erhöhen, um frequenzbringende Effekte zu erzielen.

Location Insider: Und wie können digitale Dienste die Innenstädte attraktiver machen? Ich denke da auch an Ihre andere aktuelle Studie „Cross-Channel – Quo Vadis?“.

Boris Hedde: Fakt ist: wir reden alle von Cross-Channel-Aktivitäten und -Strategien, aber offenbar sind die beim Konsumenten gar nicht so bekannt. Da greifen diese beiden Studien ineinander. Weil es nämlich genau darum geht, ein Verständnis zu schaffen und Leistungen zu offerieren, die tatsächlichen Mehrwert bedeuten. Wenn wir uns die Befragung „Vitale Innenstädte“ anschauen, stellen wir fest, dass mehr als die Hälfte der Personen, und das waren tatsächlich die stationär Affinen, gesagt haben, sie suchen die Möglichkeit, online Informationen über die Geschäfte vor Ort einholen zu können. Genügend Anknüpfungspunkte sind also da. Zudem erwarten zwei Drittel der Befragten kostenfreies WLAN in der Stadt. Ich war überrascht, dass schon jetzt über 40 Prozent auch einen lokalen Onlinemarktplatz als interessant erachten. Wobei das Thema ja noch nicht so weit gediehen ist und wir in der Passantenbefragung alle Altersgruppen abgebildet haben. Die Ausgangsbasis für echte Cross-Channel-Ansätze ist eigentlich gegeben. Die Unternehmen sind aber gefordert, nicht nur etwas im Kämmerlein zu konzipieren, sondern sich zu überlegen, was schafft echte Mehrwerte und wie bekomme ich es kommunikativ hin, dass diese Mehrwerte auch meine Zielgruppe erreichen. Diesbezüglich gibt es für die Branche noch ein großes To-Do, das zeigen beide Studien.

Location Insider: Sie hatten ja gesagt, Sie haben bei den vitalen Innenstädten letztlich nur die Konsumenten befragt, die schon in der Innenstadt sind. Wer sind denn heute die Leute, die in der Innenstadt einkaufen gehen?

Boris Hedde: Egal ob Kleinstadt oder Großstadt, die Innenstadt wird nach wie vor von allen Altersgruppen frequentiert. Das Vorurteil, dass man vor allem die ältere Generation in der Innenstadt antrifft, trifft definitiv nicht zu.

Location Insider: Wo kaufen Sie denn persönlich gerne ein?

Boris Hedde: Ich bin ein klassischer selektiver Shopper. Ich kaufe abhängig vom Wetter, von Produkten, von Stimmungen, ob es Erlebniskauf oder Notkauf, hektischer Kauf oder Geschenkekauf ist, mal online, mal offline und bei unterschiedlichen Anbietern. Ich bin kein Click-und-Collect-Mensch, sondern nutze auch gerne den Vorteil des Online-Shoppings mit der Lieferung nach Hause.

Location Insider: Wie stark ist der Wettkampf zwischen online und offline?

Boris Hedde: In der Vergangenheit haben wir eigentlich immer wieder Kämpfe zwischen Formaten beobachten können. Es gab die Distributionsverschiebungen vom kleinen, betrieblichen Handel in die Großfläche. Und von der Innenstadt in die Peripherie. Die zweite Welle war das sich veränderte Kaufverhalten durch die Digitalisierung. Das nächste große Thema werden demografische Veränderungen sein. Das Thema Demografie wird eine sehr große Relevanz bekommen und gerade auch periphere Regionen herausfordern. Denn auch dort muss die Frage gestellt werden: kann Digitalisierung perspektivisch helfen, um Systeme zu schaffen, die die Nahversorgung der Bevölkerung langfristig sichern? Dieses Thema wird uns in Zukunft in großem Maße beschäftigen. Jetzt sind wir gespannt, was die nächste „Vitale Innenstadt“-Analyse mitbringen wird. Die nächste Erhebung steht 2018 an.

Location Insider: Wie wichtig ist es denn überhaupt, dass die Frequenz direkt im Geschäft ist? Oder sollten auch kleinere Einzelhändler im ländlichen Raum eher Lieferdienste anbieten, um z.B. auch die Älteren zu erreichen?

Boris Hedde: Wir haben im Rahmen der Dialogplattform Einzelhandel, ein Projekt des Bundeswirtschaftsministeriums, in den Workshop-Reihen zum ländlichen Raum genau dieses Thema diskutiert. Welche Konzepte können eine perspektivische Nachversorgung sichern? Hierzu zählen nicht nur Fragen der Logistik – das Thema muss weitergedacht werden. Es muss Infrastruktur geschaffen werden, die sowohl Personen als auch Produkte transportiert. Bereits heute gibt es einzelne Experimente, die versuchen, mit digitalen Lösungen Shuttle-Services zu offerieren. Oder dass man versucht, Kompetenzen zu bündeln und mit Satellitenfunktionen zu arbeiten. Meistens ist der Lebensmittelladen ja der letzte Händler, der vor Ort ist, sodass über Sortimentserweiterungen nachgedacht werden könnte. Bei Heidenheim beispielsweise gibt es erste Versuche, wo sich Ernsting‘s Family und Rewe gemeinsam der Sicherung der Nahversorgung widmen. Die Wertschöpfung wird sowohl in Sachen Personal als auch Raum verlängert. Diesbezüglich gibt es eine ganze Menge an Möglichkeiten. Investitionen in diese Richtung voranzutreiben, ist der richtige Weg.

Location Insider: Danke für das Gespräch!


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