Das Transformationsdilemma des stationären Handels.

von Gastautor am 03.September 2019 in News, Trends & Analysen

Von Mathias Gehrckens (Accenture)

Der Einzelhandel hat das Wissen um den Kunden mit seinem vielfältigen Multikanal-Einkaufsverhalten verloren, obwohl Technologien und Innovationen neue Möglichkeiten für Wachstum bieten. Jahrzehntelange Rillenoptimierung im stationären Handelsgeschäft hat zwar die Daseinsfrist verlängert, aber keine nachhaltige Verbesserung erwirkt.

Es geht um nicht weniger als die größte Transformationsherausforderung der Handelsgeschichte.Gesellschaftliche und technologische Veränderungen prägen den Markt. Die Digitalisierung bringt neue Markt- und Wettbewerbssituationen mit sich und zwingt die Unternehmen zum Handeln. Allerdings ist die Finanzierung der notwendigen Transformation schwierig. Rationalisierungspotenziale sind häufig bereits ausgeschöpft, niedrige Margen bieten aufgrund des hohen Wettbewerbsdrucks wenig Potenzial. Angestoßene Transformationsansätze führen noch nicht zu den gewünschten Erfolgen, weil nicht nur der Mut zum radikalen Umdenken und schnellen Handeln, sondern auch Kapital, Technologien und Know-how in den Organisationen fehlen oder nicht ausreichen. Was tun?

Der Einzelhandel im starken Wandel

Früher belegten Kaufhäuser Innenstadtlagen, dann wurden sie von filialisierten Fachhändlern und Discountern verdrängt. Heute stehen auch diese unter massivem Handlungsdruck. Das Erfolgsrezept der Filialbetriebe basierte lange Zeit auf Skaleneffekten und Effizienzgewinnen durch Multiplikation, die direkt in Wettbewerbsvorteile umgewandelt wurden. Auch der Verzicht auf einen personalintensiven Kundenservice trug dazu bei, dass Fachmärkte wie MediaMarktSaturn und Discounter wie Aldi und Lidl eine aggressive Preispolitik realisieren konnten. Digitalisierung und veränderte Verbraucherwünsche führen zu einer Verschmelzung der Formatgrenzen. Discounter bieten beispielweise Bio und Backwaren an, Supermärkte entwickeln preisgünstige Eigenmarken. Hersteller wie Beiersdorf, Adidas, Bosch und Nestle etablieren direkte Vertriebskanäle (Online, Stationärgeschäft) und verkaufen zunehmend auch über Marktplätze an den Kunden.

Cross-Channel als Lösung? Unternehmen stehen durch die Digitalisierung unter Wettbewerbsdruck

Durch die zunehmende Technologisierung hat der Online-Handel den Kampf um den Kunden verschärft. Neue Geschäftsmodelle entstehen, die andere zerstören.Begünstigt wird dieser Umstand durch große Summen an Risikokapital, die den Unternehmen bereitgestellt werden. Unternehmen wie Zalando, Tesla, AirBnB, Netflix, Spotify und auch die Otto-Tochter About You haben mit innovativen Geschäftsmodellen, einer starken Kundenperspektive und erheblichem Risikokapital die ganze Branche verändert. Dagegen sind Unternehmen wie Warner Music, Sony, Blockbuster Video, aber auch deutsche Retailer wie Karstadt, Schlecker, Praktiker oder aktuell Gerry Weber und Esprit von der Insolvenz bedroht oder schon vom Markt verschwunden, da sie sich nicht den technologischen Entwicklungen angepasst haben. Auch Bücher, Kleidung, Schuhe und Elektronik werden von der Mehrheit der Nutzer bereits online bestellt, wohingegen der Lebensmittel-, Baumarkt- und Möbelbranche noch die großen, disruptiven Veränderungen bevorstehen. Da E-Commerce der einzige Vertriebskanal ist, der noch merklich wächst, entwickeln sich immer mehr stationäre Einzelhändler zu Cross Channel-Anbietern.Diese haben jedoch mit hohen Investitionen und Komplexität zu kämpfen. Sie müssen ihren Kunden ein lückenloses Einkaufserlebnis über alle Kanäle bieten und massiv in Logistik, Technologien und Know-how investieren. So müssen Händler beispielsweise in der Lage zu sein, die Nachfrage von vielen Endkunden in den Filialen und den Onlineshop parallel zu bedienen. Das erfordert Lagerbestandsinformationen in Echtzeit und kombinierte Lagersysteme, um die kanalspezifischen Lagerbestände übergreifend zu optimieren. Dazu kommen Anforderungen an schnelle Lieferzeiten (Lieferung am gleichen oder nächsten Tag) und Service-Exzellenz. Aber Cross-Channel löst nicht das grundsätzliche Problem eines rückläufigen Stationärgeschäfts. Selbst amerikanische Unternehmen wie der Elektronikhändler Best Buy, der den europäischen Unternehmen im Cross-Channel-Kontext um einiges voraus ist, haben durch Cross-Channel-Konzepte den Niedergang ihres Filialgeschäftes nicht stoppen können. Im Jahr 2018 musste Best Buy aufgrund niedriger Stationärumsätze 250 Filialen schließen. Auch der schwedische Modehändler H&M setzt trotz guter Erfolge im Online-Geschäft seine in 2017 bereits angekündigte Filialnetz-Anpassung konsequent weiter um. Erst vor wenigen Tagen hat die Parfümeriekette Douglas, die sehr früh mit Cross-Channel-Angeboten startete und deren Wachstumsmotor mittlerweile das Onlinegeschäft geworden ist, die Schließung von europaweit 70 Filialen angekündigt.

Beispiel für ein Cross-Channel-Konzept: Abholstation für Online-Bestellungen bei Home Depot in Brooklyn (Bild: melissamn / Shutterstock.com)

Großteil des deutschen Einzelhandels noch am Anfang der Digitalisierung

 Die wenigsten Einzelhändler setzen die neuen Technologien vollumfänglich ein. Innovationen wie Tablets/Smartphones, Frequenzmessung, digitale Beschilderung, virtuelle Regale, interaktive Schaufenster, Virtual/Augmented Reality, Beacons oder interaktive Spiegel sowie Technologien zur Lenkung der Kundenlaufwege sind über der Hälfte der Händler unbekannt. Durch den mangelnden, intelligenten Einsatz von Technologien und Innovationen hat der stationäre Handel das Wissen um den Kunden mit seinem vielfältigen Multikanal-Einkaufsverhalten verloren, obwohl diese innovative Technik auf der Prozessebene und an der Schnittstelle zum Kunden neue Möglichkeiten bietet. Der Handel muss nach Jahrzehnten der Rillenoptimierung im stationären Geschäft, die ihm geholfen hat, dass enorme Filialwachstum voranzutreiben, nun umdenken. Es gilt über den intelligenten Einsatz von Technologie den Kunden wieder besser verstehen zu lernen und über Automatisierung und Einsatz von KI neue Umsatz- und Ratio-Potenziale zu erschließen.

Der Handel wird langfristig weiter an Wachstum verlieren

Auch aufgrund des Bevölkerungsrückgangs wird der Handel langfristig an Wachstum einbüßen. Diese Entwicklung wird durch stagnierende Reallöhne noch verstärkt. Auch sind in den letzten 30 Jahren laut Statistischem Bundesamt 2018 die Ausgaben für Nahrungsmittel und Bekleidung im Einzelhandel auf unter 30% des privaten Einkommens gesunken. Dennoch ergeben sich für Unternehmen durch die soziodemografischen Strukturverschiebung neue Chancen. Neue Geschäftsideen und Konzepte sind gefragt, um die Bedürfnisse der immer älter werdenden Bevölkerung gerecht zu werden. Auch bietet der Trend der neuen Mobilisierung gepaart mit dem gestiegenen Umweltbewusstsein und Urbanisierung Raum für neue Ideen.

Zukunftsfähigkeit hinterfragen, um zu überleben

Handelsunternehmen brauchen mehr als nur gute Branchenkenntnisse und Anpassungsfähigkeit, um zukünftig zu überleben. Sie müssen sich auf dynamische und kontinuierliche Veränderungen einstellen und dürfen dabei nicht die operative Exzellenz beim laufenden Geschäft aus den Augen verlieren. Die digitale Transformation erfordert die Mammut-Aufgabe eigene Kernstrategien, Unternehmenskultur, Organisation, Wertschöpfungs- und Prozessketten grundlegend zu verändern und nicht nur eine schrittweise Verbesserung mittels neuer Technologien durchzuführen. Parallel zum Kerngeschäft müssen neue Geschäftsmodelle aufgebaut werden (siehe erneut die Otto Group mit About You). Dabei ist es wichtig, neuartig zu denken und nicht zum Opfer der bestehenden Strukturen zu werden.

Um Unternehmen erfolgreich in die digitale Welt zu begleiten, bietet sich ein fünfstufiges Pivot-Modell an. Es umfasst folgende Transformations-Phasen:

1. Den Kern transformieren:

Getrieben durch technologische Innovationen und veränderten Wettbewerb müssen Unternehmen ihr Kerngeschäft verändern oder durch Zukauf erweitern. Wettbewerbsfähige Kosten zur Freisetzung finanzieller Mittel sowie die Optimierung von Prozessen und Strukturen stehen im Fokus, um agiler und schneller auf sich ändernde Kundenbedürfnisse und Marktanforderungen reagieren zu können.

2. Den transformierten Kern weiterentwickeln:

Freigesetzte Mittel in die Weiterentwicklung des noch profitablen Kerngeschäftes investieren und neue Technologien nutzen.

3. Das Neue erfinden:

Freigesetzte Mittel parallel in neue, disruptive und risikobehaftete Geschäftsmodelle investieren, die flexibel genug sind auf Marktveränderungen zu reagieren. Dabei müssen die Durchführbarkeit und Wertschöpfungspotenziale genau geprüft werden, bevor Zeit und Ressourcen in deren Entwicklung gesteckt werden. Wichtig ist auch die Öffnung des Unternehmens in Richtung Partnerschaften, um der Innovationsgeschwindigkeit Rechnung zu tragen.

4. und 5. Das Neue skalieren und die Balance halten:

Nach der erfolgreichen Beendigung der Testphase erfolgt eine sukzessive Erhöhung des Kapitals in das neue Geschäftsmodell. Wichtig dabei ist es stets die richtige Balance zwischen Investments in das alte und das neue Geschäftsmodell zu halten, solange bis der Skalierungseffekte des neuen Modells abgeschlossen ist.

Der stationäre Handel befindet sich mit seiner Transformationsaufgabe in einer Zwickmühle

Auf der einen Seite muss er sich dem Wandel der Branche stellen, auf der anderen Seite sind die meisten Handelsunternehmen an die Grenzen ihrer Optimierung gekommen. Durch die Filialisierung und die weit vorgeschrittene traditionelle Prozess- und Systemoptimierung sind die substanziellen Mittel zur Finanzierung der Transformation bereits gehoben. Neue Chancen liegen in der Transformation des Kerngeschäftes, der Automatisierung, der Flächenoptimierung, der Entwicklung neuer Verkaufsformate sowie der besseren Kundenausschöpfung durch gezielte Ansprache mittels eines CRMs und Cross Channel Maßnahmen. Allerdings ziehen diese Maßnahmen erhebliche Investitionen in Soft- und Hardware, Menschen und Ausstattung mit sich und erhöhen außerdem die Komplexität des Unternehmens, was dem Erfolgsrezept des klassischen Kerngeschäftes widerspricht.

Ob Tesco, Macy’s, Walmart oder Rewe: Für eine erfolgreiche vollständige Transformation eines stationären Handelsunternehmens gibt es bis heute noch keine wirklich nachgewiesenen Beispiele – weder in Deutschland noch in Europa oder den USA. Zwar wurden alle für ihre digitalen Transformationserfolge gefeiert, jedoch hat keiner bislang anhand von Kennzahlen die nachhaltigen Erfolge der getroffenen Maßnahmen belegen können. Und gerade deswegen: Nur Unternehmen mit Mut zur Veränderung und Ausdauer sowie Konsequenz im Veränderungsprozess werden es schaffen, die Transformation erfolgreich zu meistern. Der Handel muss jetzt handeln.

Über den Autor:

Mathias Gehrckens ist Geschäftsführer der Accenture GmbH im Bereich „Consumer Goods & Retail“ mit besonderem Fokus auf agile Organisation und digitale Transformation. Zudem ist er Co-Gründer der dgroup, seit 2016 Teil des globalen Accenture-Netzwerkes.

Gehrckens veröffentlicht regelmäßig Fachbücher zum Thema Handel und Digitalisierung, zuletzt gemeinsam mit dem Accenture-Geschäftsführer Thomas Täuber sowie Professor Dr. Gerrit Heinemann „Handel mit Mehrwert – Digitaler Wandel in Märkten, Geschäftsmodellen und Geschäftssystemen“ (*).

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