„Der Handel denkt noch immer sehr flächenbezogen“: Interview mit T. Täuber und M. Gehrckens von Accenture.

von Florian Treiß am 04.März 2019 in Interviews, News

Mathias Gehrckens (links) und Thomas Täuber (rechts) von Accenture

In Ihrem neuen Buch „Handel mit Mehrwert“ (Leseprobe hier) plädieren sie für einen disruptiven Wandel im Handel: Die Retail-Experten Thomas Täuber und Mathias Gehrckens aus der Geschäftsführung von Accenture Deutschland monieren, dass viele Einzelhändler in Deutschland in den letzten Jahren beim „Filialisieren den Kunden aus den Augen verloren und auf simple ‚One Fits All‘-Modelle gesetzt“ haben. Heute stecken viele Unternehmen in dem Dilemma, dass sie „nicht gleichzeitig das Ladenkonzept überdenken und parallel das Online-Geschäft ausbauen können. Denn das Zusammenspiel zwischen Stationär und Online muss neu erfunden werden.“ Wir haben mit Mathias Gehrckens und Thomas Täuber über aktuelle Herausforderungen v.a. in den Bereichen Fashion, Baumärkte und Lebensmitteleinzelhandel gesprochen sowie darüber, wie Deutschlands Händler den disruptiven Wandel packen können.

Location Insider: Wie schätzen Sie die aktuelle Lage des Deutschen Einzelhandels ein?

Mathias Gehrckens: Gerade im Non-Food-Bereich, speziell im Fashion-Segment, ist der deutsche Handel in einer schwierigen Lage. In Hinblick auf den Fashion-Markt sind die meisten Formate in den letzten Jahren stark durch Offline-Präsenz gewachsen. Das Thema Online und Mobile haben viele aber weitestgehend außer Acht gelassen. Als Beispiel könnte man Gerry Weber nennen, die völlig unterschätzt haben, dass der Digitalkanal zu irgendeinem Zeitpunkt deutlich an Relevanz und Marktanteil gewinnt. Heute sieht man, dass es eine starke Über-Filialisierung dieser Formate gibt. Solche Händler können sich nicht aus der eigenen Finanzkraft wieder aus dem Sumpf ziehen und gleichzeitig in den neuen Kanal und die neuen Kommunikationsmedien investieren. Die meisten Formate haben bei all diesem Filialisieren auch den Kunden aus den Augen verloren und auf simple „One Fits All“-Modelle gesetzt. Dabei erwartet der Kunde in Zeiten der Digitalisierung deutlich mehr Individualisierung. Ähnlich ist es bei Baumärkten. Die haben ein sehr breites Angebot mit vielen schwierig zu managenden Saisonkomponenten, operieren mit schwachen Margen und werden zudem durch einen Online-Anbieter wie Amazon als großem Marktplatz in vielen der Produktkategorien extrem stark angegriffen. Dort lag der Fokus in der Vergangenheit ebenfalls zu stark auf Flächenwachstum und zu wenig auf online.

Location Insider: Wie erklären Sie sich denn dieses einfach immer weiter so machen? Immerhin wird Amazon dieses Jahr auch schon 25 Jahre alt. Wieso hat der Handel so lange an alten Konzepten festgehalten?

Thomas Täuber: Aus der Tradition heraus ist die Denkweise des Handel immer noch sehr flächenbezogen. Menschen denken immer zuerst in den Systemen, die sie kennen. Speziell in Deutschland hat sich der Handel sehr lange verschlossen, Online zu lange einfach als kurzfristigen Trend abgetan und gedacht, dass sich letztendlich die alten Prinzipien weiterhin durchsetzen lassen: also das richtige Produkt zum richtigen Preis und Zeitpunkt am richtigen Ort anzubieten. Dadurch wurde der Weg zu Wachstum durch Skalierung des Geschäftes durch immer neue Filialen zu lange aufrechterhalten. Dann kam der nächste Trend zu sagen, ich kann dem Thema Online begegnen, in dem ich die Filiale stärker aufwerte und dem Kunden persönliche Beratung und Erlebnis biete. Das ist auch richtig, aber viele Händler haben nicht die Kurve bekommen gleichzeitig das Ladenkonzept zu überdenken und parallel das Online-Geschäft auszubauen. Denn das Zusammenspiel zwischen Stationär und Online muss neu erfunden werden. Und das ist für einen Offline-Händler erheblich schwieriger als bei Online Pure Playern, die erst später sehr dosiert Filialen eröffnen, die dann aber von Anfang an den Online-Kanal perfekt ergänzen.

Location Insider: Sehen Sie denn umgekehrt aktuell auch Best Practices unter traditionellen Händlern, die den digitalen Wandel schon gemeistert haben und sich im Omnichannel-Handel gut aufgestellt haben?

Mathias Gehrckens: Die Otto Group, die zwar sehr lange auf ihrem klassischen Kataloggeschäft beharrt, dann aber doch Mitte der 2000ern das Ruder langsam umgelenkt und sich auf den digitalen Transformationspfad begeben hat. Heute hat sie zumindest eine Chance, einen Gegenpol zu Amazon und Co. zu beziehen, und ist auf einem ganz guten Weg in der digitalen Transformation.

Thomas Täuber: Adidas ist auch ein gutes Beispiel. Dort hat man Themen wie Community, Social Media und das Spielen über alle Kanäle gut entwickelt. Das Unternehmen hat verstanden, dass der Wandel nicht nur die Kundeninteraktion betrifft, sondern auch unternehmensintern ein Umdenken erfolgen muss, um eine nachhaltige Innovationskraft zu entwickeln. Generell ist es schwierig, gute Beispiele in Deutschland zu finden. Es gibt zwar viele Versuche, aber keinen Spieler, der wirklich durchgängig und skaliert den Wandel geschafft hat. International gesehen ist ansonsten Inditex (u.a. Zara) ein gutes Beispiel: Zara balanciert sehr gut das Online- mit dem Flächenwachstum und ist deswegen auch heute noch relativ gesund. Zara hat es auch geschafft viele Instore-Prozesse zu digitalisieren und dabei die Mitarbeiter einzubinden, ein entscheidendes Element, dass viele vernachlässigen. Die Marke ist somit ein gutes Beispiel aus dem vertikalen Handel, das seine Offline-Präsenz dem neuen Wettbewerb durch Integration digitaler Kanäle angepasst hat, und zwar durch Fokussierung auf Digitalisierung der Kundenprozesse, aber insbesondere der rückwärtigen Prozessen wie Beschaffung und Supply Chain.

Blick in den Lego Store in Leipzig (Bild: Florian Treiß)

Location Insider: Adidas und Zara sind zudem gute Beispiele für Marken, die mit Mono-Label-Shops expandieren, wodurch die Grenzen zwischen Hersteller und Händler verwischen. Mittlerweile gibt es z.B. aber auch Lego Stores oder Lindt Stores in den Städten, also Spielsteine oder Schokolade in Mono-Label-Shop. Wie erklären Sie sich den Trend hin zu vertikalen Modellen?

Mathias Gehrckens: Bei Lindt aber auch Lego – stellvertretend für viele Markenartikler – habe ich das Gefühl, dass es dort weniger um die Wertschöpfungskette geht als darum, die Marke auch auf der Fläche besser auszuspielen, was z.B. in Kaufhäusern oder Supermärkten nicht so gut funktioniert. Das heißt, ein Lindt Store ist sicherlich auch ein Kommunikationsmedium, um Markenstärke und Sortimentsbreite in Hochfrequenzlagen und urbaner Umgebung zu demonstrieren. Sicherlich werden in speziellen Locations solche neuen Retail-Formate aus der Markenartikelwelt auch profitabel, aber das erste Ziel ist es dabei, die Marke weiter zu stärken, um eben das zu tun, was der Handel über die Jahre nicht mehr getan hat. Ein anderes Beispiel sind auch die In-Shop-Flächen, wenn Sie sich die DIY-Branche angucken, da gibt es auch Spieler wie Bosch, die eben alles versucht haben, um die Marke wieder auf die Fläche zu bringen, die der Handel aufgrund von Margendruck und Eigenmarkenbestrebungen in der Vergangenheit vernachlässigt hat. Der Vertikalisierungstrend ist aber nach wie vor im Fashion-Bereich am größten, wie z.B. Zara oder auch H&M, die dadurch aktuelle Mode zu niedrigen Preispunkten abliefern können.

Location Insider: Trotzdem lief es ja auch bei H&M nicht so rund in letzter Zeit. Wie schätzen Sie dort die Lage ein?

Thomas Täuber: H&M ist ein klassisches Beispiel für ein Unternehmen, das sehr schnell auf Flächenwachstum gesetzt hat und nun nicht schnell genug ist, das mit der Online-Strategie zu verbinden. H&M wächst online zwar stark, aber für die Gesamtprofitabilität sind jetzt die vielen großen Filialen, die immer noch so genutzt werden wie früher, das Problem und werden zum Ballast. H&M verkauft mittlerweile viel online, der Umsatz auf der Fläche wird aber niedriger. Also wäre es konsequent, nun kleinere Räumlichkeiten zu nehmen und dort auf Erlebnis, Showrooming und Click & Collect zu setzen. Das ist aber etwas, das man nicht in einem einzigen Jahr ändern kann, sondern da braucht es eine langfristige Planung, u.a. auch wegen der langfristigen Mietverträge.

Ein spannendes Beispiel ist auch Ikea. Der Einrichtungskonzern setzt in Innenstadtlagen auf sehr kleine Konzepte fürs Showrooming und versucht damit, die großen Häuser in Randlagen zu ergänzen. Auch dort stellt sich die Frage wie schnell das gedreht werden kann und wie sehr Ikea die Balance zwischen klassischen und neuen Konzepten findet, die nicht nur als Pilot dienen, sondern sich auch nachhaltig in der Bilanz bemerkbar machen.

Location Insider: Auch im Food-Bereich ist ja vieles in Bewegung. Einerseits gibt es immer mehr den Trend zu Online-Supermärkten, wie dem Rewe Lieferservice, Amazon Fresh oder Picnic. Andererseits ist auch gerade der russische Discounter Mere in Deutschland gestartet. Wo geht aus Ihrer Sicht denn die Reise im LEH hin?

Thomas Täuber: Wir sehen auch dort die Versuche der klassischen Unternehmen wie Rewe, das hier mit Sicherheit führend ist. Aber wir sehen auch, dass von diesen Händlern keiner wirklich profitabel ist, einfach aufgrund der hohen Logistikkosten und dem Problem mit der letzten Meile. Deswegen gehen Konzepte wie Picnic einen ganz anderen Weg und sagen, ich beliefere nur Kunden, die auf meiner „Milchmann-Route“ liegen und damit auch wirtschaftlich vernünftig bedient werden können.

Lebensmittellieferung vom Startup Picnic (Bild: obs/Picnic)

Mathias Gehrckens: Noch kurz zu Mere: Ich glaube, dass wir in Deutschland kein weiteres nationales Discountformat brauchen und ich bin sicher, es wird sich auch nicht durchsetzen lassen, zumindest nicht in der Form, wie es heute so ein bisschen antizipiert wird. Ich kann mir vorstellen, dass Mere lokal, insbesondere dort, wo vielleicht eine größere russische Community lebt, mit einem gemischten russischen-deutschen Discount Sortiment Erfolg haben kann. Aber ich glaube nicht, dass Mere in der Lage ist, Lidl, Aldi, Norma, Netto und Penny ernsthaft Konkurrenz zu machen. Daher vermute ich auch , dass die großen Discounter davor nicht zittern.

Für die Discounter ist es ein viel wichtigeres Thema, sich dem gesellschaftlichen Wandel mit neuen Mobilitätskonzepten und veränderten Haushaltsstrukturen zu stellen und zu verstehen, dass großflächige Formate mit Parkplatzflächen am Rande der Stadt, möglicherweise in Zukunft eine fallende Anzahl von Kaufakten haben. Dass aber umgekehrt klassische Zentrallagen in Städten deutlich kleinere Warenkörbe hervorbringen, aber sehr viel höheren Aufwand in der Logistik und Abwicklung bedeuten. Man muss damit dann ganz neue Abläufe in und zu den Filialen schaffen. Eine ganz besondere Bedeutung bekommt in diesem Zusammenhang ein schnellerer Bezahlvorgang. Discounter sind ja immer dafür bekannt gewesen, die schnellste Kasse im Lebensmittelhandel zu haben. Und das wird uns dazu bringen, dass aus dem Discount-Bereich neue Cityformate kommen werden, die ganz anders aussehen, als das, was wir heute von den Discountern gewohnt sind.

Location Insider: In Ihrem „Handel mit Mehrwert“ (Leseprobe hier) plädieren Sie für einen disruptiven Wandel des Handels. Wie sollte so ein disruptiver Wandel denn aussehen?

Mathias Gehrckens: Das erste ist sicherlich die Wiederentdeckung des Kunden, denn wie wir alle festgestellt haben, hat sich die letzte Epoche im stationären Handel eigentlich damit beschäftigt, relativ Kundensegment-unspezifische Formate zu skalieren. Das hat Deutschland in vielen Bereich zu einem Land gemacht, in dem wir sehr günstig einkaufen konnten. Ich glaube, wir haben eine Entwicklung zu einer deutlich stärkeren Individualisierung auf der Konsumentenseite durch die digitalen Veränderungen und Möglichkeiten. Und darauf muss der Händler und auch sein  Ladenpersonal eingehen können, gern auch mit Hilfe digitaler Services.

Der Handel muss beherzt ins Digitalisieren investieren. Das heißt nicht, dass man jetzt jeden Mist ausprobieren und alles versuchen muss, was irgendwie mit digital zu tun hat. Man sollte sich sehr wohl auf sein Format fokussieren und sich fragen: was muss ich denn jetzt eigentlich hier machen, was ist relevant für meine Kunden, was hilft mir, meine Kunden besser zu adressieren? Auf der anderen Seite: wo kann ich bei meinen bestehenden Prozessen durch Digitalisierung Kosten freisetzen, um diese wiederum für eine stärker auf den Endkunden fokussierte Angebotsform zu investieren. Das heißt, aus meiner Perspektive muss der Handel beherzt beim Kunden ansetzen, aber beherzt auch noch mal in die Kosten des Bestehenden gehen, um die Mittel freizusetzen, um den individualisierten Kunden dann auch mit den richtigen technologischen und personellen Möglichkeiten zu bespielen.

Thomas Täuber: Händler sollten auch darüber nachdenken, was der Mehrwert ist, den sie ihren Kunden vermitteln wollen. Da muss jeder seinen Weg finden, viele haben das jedoch ein wenig aus den Augen verloren. Ein Discounter hat einen sehr klaren Mehrwert: Günstige Ware zu relativ guter Qualität in einem sehr einfachen Ladenkonzept anzubieten, was ein sehr effizientes Einkaufen ermöglicht. Wenn diese Unternehmen überlegen, wie sie ihren Mehrwert in die Zukunft tragen, sollten sie anders an die Sache herangehen. Zum Beispiel Standardprodukte als automatische Wiederbefüllung oder über Abonnements den Kunden zur liefern. Dazu muss ich aber auch die Prozesse konsequent vom Kunden her denken. Das ist der besagte disruptive Wandel, den ich nicht realisiere, indem ich als Händler in Startups investiere oder ein Innovationscenter baue, sondern indem ich diesen Wandel in meinem gesamten Betriebsmodell anstoße und meine Prozesse neu um den Kunden herum ausrichte. Dadurch können Händler die klassische Teilung aufbrechen, die zwischen Einkauf, Marketing, Vertrieb und Instore besteht. Unternehmen müssen sich vielmehr um einen konkreten Mehrwert für Kunden herum ausrichten. Das fällt vielen noch sehr schwer, weil es ja nicht nur um ein paar digitale Tools geht, sondern einen kompletten Umbau des Unternehmens erfordert.

Location Insider: Vielen Dank für das Interview!

Das neue Fachbuch von Handelsforscher Prof. Dr. Gerrit Heinemann (Hochschule Niederrhein) und den Retail-Experten H. Mathias Gehrckens und Thomas Täuber (Accenture) Handel mit Mehrwert erhalten Sie hier direkt beim Verlag.


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