Interview: commercetools-Gründer Dirk Hörig über APIs und neue Kundenansprache in der Post-Webshop-Ära.

von Florian Treiß am 30.November 2017 in Interviews, News, Shoptech

„Händler müssen experimentieren, denn anders schaffen sie sich keinen Wettbewerbsvorteil“, sagt Dirk Hörig. 2006 gründete er zusammen mit ehemaligen Kollegen das Unternehmen commercetools, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, dem Handel flexible, cloudbasierte Lösungen bereitzustellen und sich von der traditionellen Webshop-Fokussierung zu trennen. 2014 wurde das Technologieunternehmen von der REWE Group übernommen – und löste damit Skepsis in der Branche aus, womöglich künftig bloß nur noch als interner Dienstleister zu fungieren. Doch das Gegenteil ist der Fall, commercetools wird weiter konzernunabhängig geführt: „Wir haben nicht das Ziel, die fünf relevanten Lebensmittelhändler in Deutschland als Kunden zu bekommen“, spielt Hörig im Interview mit Location Insider auf die Wettbewerbssituation von REWE an. „Vielmehr wollen wir die führende Enterprise-Plattform für Commerce sein, und da ist der Lebensmittelhandel nur eine von 30 bis 40 relevanten Industrien.“ Die Wettbewerber von commercetools wiederum seien keine Startups, sondern einige der größten Technologienunternehmen der Welt: „Zwei davon haben drei Buchstaben in ihrem Namen“, schmunzelt er. Wir haben mit Dirk Hörig über die Post-Webshop-Ära und seine Vision vom Everywhere Commerce gesprochen, die er vor kurzem schon in einem Gastbeitrag für uns geschildert hat.

Location Insider: Herr Hörig, commercetools möchte der führende Anbieter für die Post-Webshop-Ära werden. Was genau verstehen Sie darunter?

Dirk Hörig: Die Handelsbranche befindet sich in einem Umfeld, in dem bereits zwei Drittel der Kunden über mobile Kanäle auf die Angebote der Händler zugreifen. Das ist kein Nischensegment mehr! Aber im Durchschnitt werden in Deutschland tatsächlich nur ein Drittel der Umsätze bisher darüber erzielt. Hier besteht klarer Handlungsbedarf. Es geht nicht mehr darum, einen mobil optimierten Webshop zu bauen, sondern ein mobiles Konzept zu erarbeiten und andere Kanäle bereits einzubinden.

Location Insider: Das heißt, Sie raten Händlern, den mobilen Webshop zu überspringen?

Dirk Hörig: Aktuell ist Mobile zwar das große Thema, weil es der relevanteste Kanal ist, aber die anderen Touch-Points wachsen stetig weiter: Voice ist groß im Kommen, Stichwort Alexa und Google Home. Laut einer US-amerikanischen Umfrage haben dort schon 20 Prozent der Verbraucher eine Bestellung über Alexa oder andere Voice-Dienste getätigt. Weitere 30 Prozent – wir sind dann bei 50 Prozent – wollen das in den nächsten Monaten tun. Das heißt nicht, dass in Zukunft jede Bestellung über Voice kommen wird, aber mit dieser Entwicklung sind wir dann schon weit weg vom klassischen Webshop. Man muss sich also überlegen, was die Digitalstrategie für sein Unternehmen im Onlinehandel ist. Und die Technologie ist davon ein Segment, das wir von commercetools mit unserer Plattform bedienen.

Location Insider: Handel ist Wandel, und es wandelt sich alles immer schneller. Wie wichtig ist es, schnell neue Lösungen implementieren oder ausrollen zu können?

Dirk Hörig: Superwichtig! Ich muss mir genau anschauen, was machen die Kunden? Und da darf ich nicht zu sehr aus Handelssicht denken, ganz nach dem Motto: Wo kann ich meine Kunden noch irgendwo erreichen und im Zweifel nerven? Das ist nicht das Ziel der Kanalvielfalt, sondern ich muss fragen: Was ändert sich dadurch für mein Geschäftsmodell und an der Herangehensweise.

Location Insider: Das klingt sehr abstrakt – können Sie Beispiele nennen?

Dirk Hörig: Ja, natürlich. In der Automobilbranche beispielsweise sehen wir schon, dass es in den nächsten Jahren mehr und mehr hin zur Nutzung und nicht zum Besitzen eines Autos geht, Stichwort Carsharing und Ridesharing. Aber auch in klassischen Retail-Bereichen können neue Geschäftsmodelle entstehen. Und dafür muss ich schnell sein, weil ich da den Anforderungen meiner Kunden gerecht werden möchte. Und die ändern sich. Insofern ist Agilität wichtig.

Location Insider: Stichwort Agilität – es wird als das neue Mantra in der Veränderung von Unternehmensprozessen gesehen. Was verstehen Sie konkret darunter?

Dirk Hörig: Agilität bedeutet, dass ich Dinge ausprobieren kann. Wenn sie nicht funktionieren, verwerfe ich sie und mache das Nächste. Das ist aber nur möglich, wenn das Risiko, das damit verbunden ist, überschaubar ist. Und da ist Technologie ein Hilfsmittel, um schnell und agil zu entwickeln, ohne sich tief in Programmiersprachen einarbeiten zu müssen. Man kann auf die Ressourcen zurückgreifen, die vorhanden sind, um die digitale Transformation auch intern zu fördern. Den Kulturwandel im Unternehmen muss ich trotzdem durchziehen, da hilft mir die beste Technologie am Markt nichts.

Location Insider: Im commercetools-Blog heißt es, dass APIs die Dampfmaschine der digitalen Revolution sind. Wieso sind die APIs so wichtig?

Dirk Hörig: Ohne eine API kann kein Sprachassistent mit meinen Produkten und mit meinen Preisen interagieren. Ohne eine API kann kein Auto irgendein Produkt irgendwo bestellen. Ohne eine API kann ich nicht in einer Hololens ein Augmented-Shopping-Szenario, ein Produkt virtuell bauen. Das ist die DNA, mit der das technisch funktioniert. Deswegen haben wir die API als Dampfmaschine bezeichnet, weil es die zugrunde liegende Technologie ist, um in neuen Kanälen neue Commerce- oder digitale Handelsmodelle zu ermöglichen, und das mit hoher Geschwindigkeit und Skalierbarkeit. Ohne APIs geht das nicht.

Location Insider: Können denn alle Händler API nutzen?

Dirk Hörig: Im Prinzip ja. Eigentlich sollte API Commodity sein, also ein Gemeinschaftsgut. So sehen wir es, und daher haben wir eine Plattform gebaut, in der alles als API zur Verfügung steht.

Location Insider: Können Sie kurz zusammenfassen, was die wichtigsten Funktionalitäten der commercetools-Plattform sind, die letztlich über APIs verfügbar sind?

Dirk Hörig: Das ist zum einen der ganze Bereich rund um das Thema Produktkatalog in einem modernen Handelsumfeld. Dazu gehört intelligente Preisgestaltung, Preisfindung, Dynamisierung. Zum anderen haben wir uns auf die Themen Warenkorb- und Order-Management sowie deren komplett flexible Erweiterung fokussiert.

Location Insider: Haben Sie sich als REWE-Tochter dabei auf die Lebensmittelbranche spezialisiert?

Dirk Hörig: Nein, im Gegenteil. Es geht uns darum, individuelle Businessmodelle zu realisieren und da darf eine moderne Plattform eben kein System von der Stange sein, sondern muss wie ein Lego-Baukasten konzipiert sein. Und das für verschiedene Branchen wie Retail, herstellende Industrie, Fashion-Marken oder Automotive. Dort sind jeweils die Anforderungen im Detail anders und das muss ich individuell konfigurieren können. Das sind unsere Kernstärken in der Grundfunktionalität plus die Tools, um all die Kanäle, die ich nutzen möchte, schnell miteinander zu verbinden.

Location Insider: Sie sagten in einem Interview mit Fashion United, dass es Ziel eines jeden Händlers sein sollte, den Kunden überall personalisiert und im richtigen Kontext zu erreichen, ihm das richtige Produkt anzubieten. Wie weit sind Deutschlands Händler, um das zu können?

Dirk Hörig: Ich glaube, noch weit am Anfang. Generell fokussiert sich der Handel noch sehr stark auf andere Herausforderungen und nicht so sehr auf das Thema „andere Kundenansprache“. Es geht nicht darum, dass ich alles überall personalisiere, sondern dass ich herausfinde, für welche meiner Zielgruppen in welchem Segment sich das lohnt und wie ich in diesem einzelnen Umfeld passende Lösungen finden kann. Manche davon werden vielleicht nicht funktionieren. Da muss man als Händler experimentieren, denn anders schaffe ich mir keinen Wettbewerbsvorteil. Da ist noch Raum für Verbesserungen.

Location Insider: commercetools ist auch in den USA aktiv. Stimmt es, dass die US-Händler uns noch Jahre voraus sind?

Dirk Hörig: Ja und nein. Es gibt die, die in den USA vorne liegen, auch die, über die viel berichtet wird, und vor allem die, die in der digitalen Ära entstanden sind, ähnlich wie bei uns Zalando, die dem klassischen Handel um zwei, drei Jahre voraus sind. Da ist in den USA der Pool größer, weil das Marktsegment größer ist und weil dort auch, was den Bereich Investment angeht, in einem größeren Bereich gestreut wird. Ich glaube aber, dass wir gerade in Deutschland in den letzten Jahren ein paar sehr gute Beispiele gefunden haben von jungen Handelsunternehmen, die versuchen, das Ganze anders anzugehen. Wir haben in Deutschland die Internationalisierungs-Herausforderung, denn um eine Größenrelevanz wie ein amerikanischer Anbieter zu bekommen, muss ich gleich international unterwegs sein.

Location Insider: Sie haben in letzter Zeit mehrere neue Kunden mit Umsätzen in Milliardenhöhe gewonnen, Beispiel Hasbro. Wie passt das bei einem Spielwarenkonzern, der auch Mobile Gaming macht?

Dirk Hörig: Hasbro ist über ihre digitale Spielsparte auf uns zugekommen, weil das Unternehmen diesen Bereich ins nächste Zeitalter überführen, aber gleichzeitig das Commerce-Rad selbst nicht neu erfinden wollte. Sie brauchten eine Commerce-Plattform, die nicht als Webshop denkt, sondern die die Funktionalitäten als Bausteine zur Verfügung stellt. Hasbro wollte eine Lösung, die Transaktionen und Produktangebote innerhalb ihrer digitalen Spiele abbilden kann. So ist es zwischen der Hasbro-Gruppe und uns zum Deal gekommen.

Location Insider: Das Weihnachtsgeschäft ist gerade mit dem Black Friday und Cyber Monday gestartet. Haben Sie Tipps, wie Händler in der wichtigsten Saison des Jahres 2017 punkten können?

Dirk Hörig: Wenn die Händler jetzt noch nicht vorbereitet sind, ist es wahrscheinlich zu spät. Was aber immer mehr zum Problem wird, sind Logistik-Engpässe in allen Bereichen. Es geht nicht nur darum, dass die Ware nicht ankommt, sondern dass sie zum Beispiel beschädigt ist. Da muss man gucken, dass man sich für das Weihnachtsgeschäft rüstet. Das betrifft nicht nur die Händler, sondern auch ihre Zulieferer.

Location Insider: Was sollten sich Händler für das Jahr 2018 besonders vornehmen?

Dirk Hörig: Inspiration und User Experience. Aus eigener Shopping-Erfahrung ist das etwas, was ich mehr und mehr vermisse. Und da kann man viel machen und muss sich mehr von Unternehmen wie Instagram, Pinterest etc. abschauen. Da ist ein Riesenpotenzial, was bisher liegen gelassen wird vom Handel. Und wenn sich jemand dem Thema annimmt, hat er einen guten Wettbewerbsvorsprung.

Location Insider: Vielen Dank für das spannende Interview!


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