Interview mit Andreas Haderlein: Ein Blick hinter die Kulissen von Online City Wuppertal.

von Matthias Hell am 18.Februar 2015 in Interviews

Handelsexperten und Berater gibt es viele. Doch dass diese die Chance erhalten, den Einzelhandel einer ganzen Stadt über mehrere Jahre hinweg in die digitale Zukunft zu führen, ist eher selten. Genau das trifft jedoch auf den Innovationsberater Andreas Haderlein zu, der seit dem vergangenen Jahr eine tragende Rolle in der Initiative Online City Wuppertal einnimmt.

Haderlein_RGBwebAndreas Haderlein ist Wirtschaftspublizist und selbstständiger Unternehmensberater. Von 2002 bis 2011 arbeitete er für das Zukunftsinstitut von Matthias Horx, wo er u.a. die Weiterbildungseinrichtung „Zukunftsakademie“ leitete. Haderlein veröffentlichte zahlreiche Studien und Trenddossiers zu Themen wie „Future Shopping“, „Die Netzgesellschaft – Schlüsseltrends des digitalen Wandels“ sowie zuletzt „Die digitale Zukunft des stationären Handels“, in dem er sich mit Multikanal-Strategien im Einzelhandel auseinandersetzt. Aktuell beschäftigt sich der studierte Kulturanthropologe intensiv mit den Themen Innenstadtverödung, Stadtentwicklung und Einzelhandelsförderung und schreibt an seinem neuen Buch „Rendezvous Retail“.

Die spannendste Aufgabe dürfte für Andreas Haderlein aber weiterhin die Begleitung des Pilotprojekts „Online City Wuppertal“ sein, zu dem er Location Insider ausführlich Rede und Antwort stand:

Location Insider: Herr Haderlein, inwiefern unterscheiden sich die praktischen Erfahrungen in Wuppertal von ihrer bisherigen Arbeit als Publizist und Berater?

Andreas Haderlein: Die Methoden und Werkzeuge unterscheiden sich nur im geringen Maße: Hier wie dort geht es um die Moderation des Wandels. Klar war mir von Anfang an, der physische Marktplatz, wie er seit Jahrtausenden existiert, braucht im 21. Jahrhundert ein digitales Pendant. Insofern musste ich noch keine These aus meinem letzten Buch „Die digitale Zukunft des stationären Handels“ revidieren. Ich war und bin überzeugt, dass der stationäre Handel eine Zukunft hat. Allerdings kann man nicht nur mit alten Rezepten der Innenstadtentwicklung oder Einzelhandelsförderung an die Sache herangehen. Und so sind mir im Laufe des Projektes auch Begriffe, Konzepte und Bezeichnungen in den Sinn gekommen, die ich vorher nicht auf dem Schirm hatte, zum Beispiel „lokaler Versandhandel“ oder „online-lokale Einzelhandelsförderung“.

Location Insider: Was war bisher der schwierigste Teil Ihrer Arbeit in Wuppertal? Beim lokalen Handel ein Bewusstsein für die nötigen Veränderungen zu schaffen?

Andreas Haderlein: Das Bewusstsein, dass sich das Gefüge der Innenstadt und das Konsumentenverhalten auch aufgrund von Digitalisierungsprozessen verändert, ist in Wuppertal wie in den meisten Städten und Gemeinden vorhanden. Allerdings fehlte hier und anderswo bis dato ein schlüssiger integrativer Ansatz. Viele digitale City-Initiativen scheitern ja, weil gut geschulte Vertriebsteams zum Beispiel City-Apps ins Rathaus getragen haben. Dass diese Apps dann auf den Servern der Verwaltung mangels Nutzung und Einbettung in ein Gesamtkonzept dahinsiechen, ist oft eine bittere Erkenntnis.

Wichtig ist vor allem, dass das Projektmanagement – hier in der Person von Christiane ten Eicken – vom Ansatz der Online City Wuppertal wirklich überzeugt ist. Denn nur so gelang es, die bei den Geld gebenden Projektpartnern und natürlich bei den Händlern vor Ort nötige Überzeugungsarbeit zu leisten. Bevor der lokale Online-Marktplatz – die erste Säule des Projekts – im November 2014 an den Start ging, war ja vielen noch nicht klar, ob unser Ansatz wirklich fruchtet.

Location Insider: Mit welchen Argumenten konnten Sie den Handel vor Ort überzeugen?

Andreas Haderlein: Ein wichtiger Hebel der Händlerakquise waren und sind die Schulungen. Denn nur hier – im informellen Zusammenhang – gelingt der Vertrauensaufbau zur Händlerschaft. Hier kann ich als Impulsgeber und Schulungsverantwortlicher zumindest in Teilen auch die Sprache der Händler sprechen, einen Zugang zu den Nöten und Ängsten finden. Die meisten der 25 Händlerpioniere, die auf dem lokalen Online-Marktplatz von Anfang an vertreten sind, waren so auch Schulungsteilnehmer. Alle weiteren kamen durch den anvisierten Schneeballeffekt und die weitere persönliche Ansprache unter das Dach der Online City Wuppertal.

Die IT-Dienstleister und Marketing-Agenturen vor Ort hingegen haben sehr früh erkannt, dass sich hinter dem Pilotprojekt eine Chance nicht zuletzt für eigene Aufträge versteckt. So kamen dann auch zur ersten öffentlichen Infoveranstaltung fast nur Dienstleister. Wir veranstalteten dann eine zweite Infoveranstaltung, die wir minutiös sowohl im Anschreiben als auch in der Visualisierung des Vorhabens vorbereitet hatten. Erst mit der zweiten Veranstaltung erreichten wir willige Händler und konnten uns den vielen – auch kritischen – Fragen stellen.

Location Insider: Für den Betrieb des lokalen Internet-Marktplatzes setzt Online City Wuppertal auf das Startup Atalanda. Was macht Atalanda als Plattformbetreiber besonders geeignet?

Andreas Haderlein: Im ursprünglichen Projektantrag hatten wir den lokalen Online-Marktplatz noch gar nicht vorgesehen, weil klar war, dass wir uns mit 115.000 Euro Fördergelder über 3 Jahre keinen eigenen Shop oder Marktplatz bauen können. Die ersten Händler aber, die Interesse an der Online City Wuppertal hatten, und auch Entscheidungsträger der Projektpartner forderten genau das.

Es gab Ende 2013 bereits zahlreiche Marktplatzmodelle jenseits von Ebay und Amazon, aber keiner – auch nicht Simply Local oder Locafox – genügte unseren Ansprüchen. Denn wir wussten ja, was wir wollen: Das Händlergesicht musste im Vordergrund stehen und die taggleiche Lieferung zur Stärkung der Servicewahrnehmung ein integraler Baustein des Marktplatzes sein. Daneben forderten wir einen niederschwelligen Zugang auch für Händler ohne Warenwirtschaftsanbindung und natürlich musste das Preismodell stimmen.

Der Zufall wollte es, dass Frau ten Eicken über den Location Insider auf Atalanda und deren Piloten in Salzburg und Hamburg aufmerksam wurde. Wir stellten den Kontakt her und ich traf den Geschäftsführer Roman Heimbold direkt in Salzburg, weil ich dort im Rahmen eines Workshops für Stadtmarketing Austria zu tun hatte. Ich hatte das Gefühl einen verlässlichen, vertrauenswürdigen, aber auch visionären technischen Partner für Wuppertal gefunden zu haben. Ganz wichtig war mir hier der direkte Kontakt in die Geschäftsführung. Denn uns allen war klar, wir können nur gemeinsam wachsen. Und so ist es ja dann auch gekommen. Atalanda hat von den Wuppertal-Erfahrungen gelernt und profitiert, aber sicherlich das eine oder andere mal kräftig geflucht, als ich Änderungen am Marktplatz eingefordert oder Händlerwünsche weitergetragen habe. Und Wuppertal hatte mit Atalanda ohne nennenswerte IT-Kosten das Fundament der digitalen Infrastruktur des Projekts gelegt.

Location Insider: Inzwischen hat Atalanda nach eigener Aussage sein Geschäftsmodell auf den „Wuppertal-Effekt“ – also auf Impulse, die aus interessierten Städten heraus kommen – angepasst…

Andreas Haderlein: Ich denke, dass wir künftig zwei Typen lokaler Marktplätze erleben werden: Zum einen reichweitenstarke Marktplätze mit vornehmlich filialisierten Händlern, deren Online-Kunden es auch egal ist, ob man aus dem Zentrallager oder aus der lokalen Filiale heraus seine Bestellung erhält. Zum anderen qualitativ anspruchsvolle lokale Online-Marktplätze mit „Spirit“, die sich modular an die Bedürfnisse der jeweiligen Stadt nebst logistischer Lösung anpassen, also ein Stadtportal 2.0 darstellen können. Dieser zweite Typ Marktplatz funktioniert aber nicht ohne Kümmerer, ohne Anschubfinanzierung oder Sponsoren. Denn letztlich ist er ein Werkzeug der lokalen oder regionalen Kaufkraftbindung. Atalanda bewegt sich als Enabler in eben diese zweite Richtung.

Location Insider: Wie zufrieden sind Sie mit den bisherigen Fortschritten bei der Umsetzung von Online City Wuppertal?

Andreas Haderlein: Pressemäßig können wir uns natürlich nicht beschweren. Wenn Sie aber wissen, wie viel Arbeit und Nachtschichten dahinter stecken und wie viele Hürden man überspringen musste, fällt eine Beurteilung relativ nüchtern aus. Klar ist aber auch, wir haben qua Auftrag als nationales Pilotprojekt eine mögliche Blaupause für andere Städte entwickelt. Das macht mich persönlich zufrieden und auch ein bisschen stolz.

Location Insider: Können Sie sagen, ob die Beurteilung bei den teilnehmenden Händlern ähnlich ausfällt?

Andreas Haderlein: Die Wuppertaler Händler messen es natürlich an den Umsätzen und vor allem in der Anfangsphase an den Wechselwirkungen zwischen Online-Präsenz und stationärem Geschäft. Dass der zweitgenannte KPI aber erst einmal moderiert werden muss, sei auch erwähnt. Wir haben nämlich immer gesagt: Die Vertriebserfolge der Startphase misst das Projektteam nicht an den tatsächlichen Online-Kaufabschlüssen, sondern an den Wechselwirkungen zwischen Online-Kommunikation/PR-Aufmerksamkeit und stationärem Geschäft. Einige teilnehmende Händler berichten so auch von deutlichen Frequenzsteigerungen und Umsatzzuwächsen. Es sind vor allem jene, die sich viel Mühe bei der Listung der Produkte gemacht haben.

Die rein onlineseitig erzielte Conversion Rate lag in der relevanten Zielgruppe, das heißt bei Wuppertaler Marktplatzbesuchern, im Dezember bei etwas über 1 Prozent – ohne einen Pfennig für SEM/SEO oder Flyer auszugeben. Das ist auch aus fachlicher Perspektive ein Erfolg. Außerdem wuchs die Sortimentsbreite ja erst im Laufe der Startphase. Zum Start am 19. November waren 25 Händler mit 400 Produkten online. Mitte Januar waren es rund 45 Händler mit circa 3.700 Produkten.

Location Insider: Und wie sieht es mit der Resonanz der Konsumenten aus?

Andreas Haderlein: Die härteste Nuss, der Wuppertaler Kunde, ist noch zu knacken. Hier haben wir aus der sich neu formierenden Interessengemeinschaft heraus schon zahlreiche Ideen auf dem Zettel – analoge Aktionen und Werbematerialien zählen genauso dazu wie kooperatives Suchmaschinenmarketing und eine Optimierung des Online-Marktplatzes in der Nutzerführung.

Location Insider: Ein spannender Aspekt bei Online City Wuppertal sind geplante Kooperationsprojekte mit Online-Händlern im Rahmen des Retail Labs. Wie weit sind Sie hier bei der Umsetzung?

Andreas Haderlein: Das Versuchslabor wird in einer innenstadtrelevanten, sichtbar unter Trading-Down-Effekten leidenden Einkaufsgalerie verortet sein, also in einer typischen vom Strukturwandel gebeutelten Retail-Immobilie. Noch müssen letzte Abstimmungen im Vertrag mit dem Center-Management getroffen werden.

Konzeptionell steht Folgendes auf der Agenda: Das Pilotprojekt soll auch zeigen, dass die von uns und Atalanda etablierte taggleiche Auslieferung einen zentralen Ort zur Konsolidierung von Paketen und Lieferungen aus dem lokalen Versandhandel des stationären Handels nötig macht. Anders ist eine effiziente Mikroverteilung in die Stadtteile kaum möglich.

Neben einem Drive-in-Schalter, wo nicht nur die Kuriere, sondern auch Kunden Click & Collect abwickeln können sollen, verstehen wir die zentrale Service-Stelle auch als Anlaufpunkt für alle Belange der Online City Wuppertal, also auch Fullfilment-Services wie zum Beispiel Retourenregelung und Info-Counter. Darüber hinaus werden im Retail Lab Online-Pure-Player in einem Shop-in-Shop angesiedelt. Dieser ist zugleich Anschauung für innovative Multichannel-Betriebstypen als auch Wirtschaftsförderung, Immobilienmarketing und Zwischennutzungsmanagement im reinsten Sinne: wir fokussieren insbesondere auch auf lokale Online-Händler, die in die Fläche gehen wollen. Die stationären Verkaufskonzepte, die es dort zu sehen geben wird, gehen dann weit über den reinen Showroom- und Pop-up-Gedanken hinaus, der ja derzeit so beliebt ist.

Location Insider: Können Sie schon verraten, in welche Richtung Ihre Pläne für Online-Händler gehen?

Andreas Haderlein: Ich habe mittlerweile eine ganze Reihe von neuen Betriebstypen in meinem Konzept „Rendezvous Retail“ zusammengetragen, die das Verkaufen auf der Fläche innovieren. Darunter fällt natürlich ein Guide Shop, wie ihn der US-Herrenausstatter Bonobos schon vor ein paar Jahren eingeführt hat und der mittlerweile auch von Protagonisten des kuratierten Online-Shoppings wie Modomoto aufgegriffen wird. Auch ein Outlet-Store wie ihn Zalando beispielsweise in Frankfurt betreibt, ist ein Betriebstyp neuen Charakters, wenn auch nur die „Resterampe“ eines vormals reinen Online-Händlers. Und ein „Making Room“, der die Personalisierung von Produkten als zentralen USP aufweist, zählt genauso zu diesen mittlerweile neun Betriebstypen wie der Drive-in-Supermarkt. Kurz: Wir zeigen mit dem Retail Lab auch, dass es leider nicht mehr ausreicht, Waren einfach nur ins Regal zu stellen und darauf zu warten, dass Kunden in den Laden rennen und sie nur deshalb kaufen, weil sie dort kaufen müssen. Die jahrtausendealte Vertriebshoheit hat der stationäre Handel spätestens seit Amazon leider eingebüßt.

Location Insider: Vielen Dank für dieses Gespräch und die spannenden Einblicke.

Video von Andreas Haderlein zum Guide Shop von Bonobos:

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