Das Internet der Dinge in den Handel bringen: Scandit-CEO Samuel Müller im Interview.

von Florian Treiß am 25.Juli 2019 in Interviews, News

„Eine der zentralen Innovationen, die wir ermöglichen, ist, dass wir eine E-Commerce-artige Experience im stationären Handel möglich machen“, sagt Samuel Müller, Co-Gründer und CEO von Scandit.  Das Unternehmen sieht den einfachsten Weg, um das Internet der Dinge in Alltagsgegenstände zu bringen, darin, den unversellen Sensor in Smartphone-Kameras zu nutzen. Mit der Technologie von Scandit, die auf Machine Learning und Augmented Reality basiert, können Objekte identifiziert, verfolgt und mit relevanten Informationen überlagert werden. Händler können damit beispielsweise ein ganzes Regal auf einmal scannen und Echtzeit-Inventardaten auf ihrem Display sehen. Und Kunden können ein Regal in einem Lebensmittelgeschäft scannen und durch einen Suchfilter schnell erkennen, welche Produkte vegan oder laktosefrei sind. In unserem Interview verrät Samuel Müller außerdem, welche großen Handelskunden die Technologie bereits erfolgreich nutzen.

Location Insider: Herr Müller, was bietet Ihr Unternehmen Scandit dem Handel an?

Samuel Müller: Was wir mit Scandit möglich machen, ist eine Interaktion mit Alltagsgütern. Im Handel ermöglichen wir über die Kamera eines Smartphones, sowohl dem Mitarbeiter im stationären Handel als auch dem Kunden auf einfachste und ganz nahtlose Weise mit Produkten zu interagieren. Damit hat der Verbraucher Zugriff auf relevante Informationen über Konsumgüter wie Inhaltsstoffe und Zusatzstoffe. Er hat außerdem direkten Zugriff auf Preis- und Mengeninformationen und kann sich das Produkt auch nach Hause liefern lassen und über das mobile Endgerät bezahlen, also Self-Checkout. Für den Filialmitarbeiter bedeutet es, die alltäglichen Prozesse dramatisch vereinfachen zu können. Wir gestalten die nahtlose Interaktion mit den Konsumgütern, die im Regal landen, aufgefüllt und wiederbestellt werden müssen, extrem einfach und intuitiv. So liefern wir Effizienzvorteile für den Handel. Auf der anderen Seite machen wir Kostensenkungen möglich. Wir ermöglichen den Einsatz von Smartphone-Technologie versus teure, dedizierte Scan-Geräte für den Mitarbeiter.

Location Insider: An welchen Stellen kommen Verbraucher mit Scandit-Technologie in Kontakt? In welchen Apps, bei welchen Händlern passiert das?

Samuel Müller: Zwei konkrete Beispiele aus der Schweiz: Die Coop-Gruppe ist der zweitgrößte Händler in der Schweiz und einer der vierzig größten Händler weltweit. Da gibt es eine App, die heißt Coop-App, und es gibt eine weitere App, die Coop-at-Home-App. Diese macht es dem Verbraucher möglich, über die Kamera des Geräts sehr einfach Produkte über Strichcode zu erkennen. Im Nachgang ist es möglich, Informationen über das betreffende Produkt abzurufen. Es ist möglich, darüber Produkte direkt zu bestellen oder nachzubestellen. Diese hole ich entweder in der Filiale ab oder lasse sie mir nach Hause liefern. Das ist innerhalb von 12 bis 24 Stunden möglich. Ein weiterer Anwendungsfall in dieser Kategorie ist das Self-Scanning. Es ermöglicht dem Endverbraucher über eine App, die Produkte direkt in der Filiale abzuscannen. Anstelle des traditionellen Prozesses fügt er die Produkte seinem virtuellen Einkaufskorb hinzu. Er scannt die Produkte in seinen virtuellen Einkaufskorb hinein, ebenfalls über die Strichcode-Erkennung der App. Am Ende der Einkaufstour in der Filiale gibt es unterschiedliche Implementierungen. Im einfachsten Fall ist es möglich, den Einkaufsprozess auf Knopfdruck abzuschließen, entweder über ein App-internes Wallet oder über eine Sofort-Bezahlmöglichkeit. Diese kann wie eine Sofort-Überweisung direkt über den Bankzugang laufen oder an einem stationären Payment-Kiosk stattfinden. Alle Produkte, die im virtuellen Warenkorb in der App liegen, werden als bezahlt markiert, und der Verbraucher kann das Geschäft verlassen, ohne an der Kasse anzustehen. Man hat den Vorteil einer hochpersonalisierten Einkaufserfahrung, indem man individualisierte Angebote offeriert bekommt. Je nachdem, welche Dinge man einkauft, bekommt man auch Guidance, ob die Produkte den eigenen Präferenzen und Bedürfnissen entsprechen. In einzelnen Fällen können persönliche Präferenz-Profile hinterlegt werden, die beispielsweise einen Alert erzeugen, wenn ein Produkt abgescannt wird, das nicht den präferierten Kriterien entspricht. Es ist beispielsweise nicht bio oder beinhaltet Laktose. So kann man den eigenen Einkaufsprozess optimieren und stark personalisieren. Das ist im traditionellen stationären Handel sehr schwer, entspricht im Online-Handel heute aber absolut den Erwartungen der Verbraucher. Eine der zentralen Innovationen, die wir ermöglichen, ist also, dass wir eine E-Commerce-artige Experience im stationären Handel möglich machen.

Location Insider: Was heißt das konkret?

Samuel Müller: Wir machen es extrem einfach für den Verbraucher, mit den Produkten zu interagieren. Das kann sogar mit einer Vielzahl von Produkten gleichzeitig geschehen, z.B. wenn eine Verbraucherin in der Filiale steht und sich unterschiedliche Arten von Konfitüre anschaut, wie in unserem Video. Sie hat beispielsweise eine persönliche Präferenz für eine Variante der Konfitüre, die über wenig Kalorien verfügt. Diese Präferenz ist in der App hinterlegt. Jetzt kann die Verbraucherin das Smartphone ans Regal halten. Dabei wird nicht nur ein Produkt erkannt, sondern es werden alle Produkte, die im Gesichtsfeld der Kamera des Smartphones liegen, gleichzeitig erkannt. Die entsprechenden Produkt-Identifikatoren oder die eigentlichen Produkte werden dann verwendet, um in der Datenbank des Händlers abzufragen, welche Konfitüren diese Bedingungen erfüllen, also wenig Kalorien haben. Dann wird der Verbraucherin über ein Augmented-Reality-Overlay eine visuelle Guidance geliefert, welche der Konfitüren, die im Regal vor ihr stehen, diesen Bedingungen entsprechen.

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Location Insider: Dieses Beispiel geht auch schon in die Objekterkennung hinein, jenseits der Barcode-Scans, richtig?

Samuel Müller: Kann sein, muss nicht sein. Wir verwenden verschiedene Techniken, um das möglich zu machen. Die Fähigkeit, die Produkte extrem schnell und zuverlässig in jeden Frame der Kamera auf dem mobilen Gerät zu identifizieren, ist in jedem Fall zentral. Die Technologie, die zur Identifikation verwendet wird, kann unterschiedlich sein. Wenn Barcodes am Regal angebracht sind, wie dies oft der Fall ist, ist das in der Regel der schnellere, zuverlässigere und einfachere Weg zum Glück. Der Grund dafür ist, dass die in Barcodes repräsentierte Produktidenfikationsnummer bereits mit entsprechenden Produktinformationen verknüpft ist. Zudem bietet die Barcode-Erkennung eine unglaublich hohe Präzision und Robustheit. Auf rund 12.000 verschiedenen Smart-Device-Konfigurationen können wir eine Erkennungsrate im 99,9-Prozent-Bereich liefern. Das heißt, der Endverbraucher hält sein Smartphone ans Regal und erkennt sofort alle Produkte. Alternative Produkt-Identifikationstechnologien wie Objekterkennung sind ebenfalls möglich. Man muss aber in Abhängigkeit der Größe des Produktkatalogs heute mit gewissen Abstrichen rechnen, inwiefern oder mit welcher Genauigkeit die Produkte zuverlässig identifiziert werden können. Die Strichcode-Erkennung ist heute alternativen Erkennungstechnologien in der Regel überlegen.

Location Insider: Bleiben wir beim Beispiel am Regal. Da kommt die Technologie auch mitarbeiterseitig z.B. für die Inventur zum Einsatz?

Samuel Müller: Absolut. Ein Beispiel für einen großen Händler, mit dem wir zusammenarbeiten, ist dm – drogerie-markt in Deutschland. Früher kamen da Hand-Scanner zum Einsatz. Das war entsprechend teuer schon nur in der Beschaffung dieser Geräte. Bei dm hat man vor rund zwei Jahren entschieden, die Filialmitarbeiter stattdessen mit Smart Devices auszustatten. Der Mitarbeiter ist jetzt mit einem persönlichen Smart Device unterwegs in der Filiale. Das Smart Device wird über eine Kombination von Scandit-Software und individueller Software dazu in die Lage versetzt, am Regal, aber auch am mobilen Verkaufspunkt relevante Prozesse abzudecken wie den Wareneingang zu überprüfen. Der Mitarbeiter scannt die Ware ab und kann dann erkennen: Wo muss die Ware hin in den Regalen? Am Regal gibt es regelmäßige Inventurprozesse, wo der Mitarbeiter durchs Regal geht und sehr einfach erkennen kann, wie es um die Verfügbarkeit einzelner Produkte steht. Er kann auch sehr einfach Produkt-Informationen abrufen und gleichzeitig seine Aufmerksamkeit auf den Kunden richten. Dadurch kann er dem Kunden viel effizienter und genauer Produkte erläutern. Der Filialmitarbeiter ist damit in der Lage, viel umsichtigere Entscheidungen direkt vor Ort zu treffen, direkt zu dem Zeitpunkt, wo beispielsweise festgestellt wird, dass ein Produkt im Regal fehlt. Er kann danach handeln und eine Bestellung auslösen. Er kann sich wirklich kompetent um die Anliegen der Kunden kümmern und so dem Verbraucher, der sich in den Laden begibt und dafür auch einen Zeitaufwand auf sich nimmt, eine Kundenerfahrung liefern, die bemerkenswert ist. Diese Erfahrung unterscheidet sich vom Online-Handel, weil da jemand nicht nur den persönlichen Bezug liefert und Fragen freundlich beantwortet, sondern das mit Kompetenz und Unmittelbarkeit tun kann. Das hat sich im Falle von dm – drogerie-markt als eine der zentralen Innovationen der letzten Jahre entpuppt und die Mitarbeiter dort sind begeistert.

Location Insider: Was denken Sie, wo sich der Handel in den nächsten Jahren hin entwickeln wird? Werden wir überall Amazon-Go-Konzepte sehen?

Samuel Müller: Amazon Go und ähnliche Konzepte sind natürlich genial. Hier wird eine tolle Innovation bereitgestellt. Aber was wir sehen, ist, dass nur ein Bruchteil der Händler weltweit in der Lage ist, von Amazon-Go-artigen Konzepten zu profitieren.

Location Insider: Was sind die Gründe dafür?

Samuel Müller: Ein Grund ist, dass nur eine ganz kleine Zahl von Händlern über die technologische Kompetenz und über Amazon-artige Investitionsstärke verfügt. Ein ganz großes Thema ist, dass die meisten Händler mit Produktpaletten konfrontiert sind, die ganz anders sind als diejenigen, die in einem Amazon-Go-Store angeboten werden. Dort wird ein unmittelbares Konsumbedürfnis befriedigt auf Basis einer sehr eingeschränkten Produktpalette. Dies sind rund 1.500 verschiedene Produkte wie z.B. Sandwiches, Waschmittel oder Getränke, allesamt hochgradig standardisierte und relative einfache Produkte, die wenig Erklärungsbedarf haben. Ein typischer Händler hat aber 50.000 Produkte. Und diese Produkte sind breit und tief in den Varianten und somit auch im Erklärungsbedarf. Dort sind alternative Konzepte nötig, mit denen man die Kunden und Mitarbeiter in die Lage versetzen will, diese Nahtlosigkeit über alternative Wege zu erreichen. Das ist extrem in line mit unseren Ansätzen. Wenn ich in der Lage bin, meinen Mitarbeitern sehr einfach Zugriff auf alle möglichen Informationen aus meinem Point of Sale und den ERP-Systemen über die Produkte zu liefern, kann ich sie befähigen, einen zusätzlichen Service, einen zusätzlichen Wert für den Kunden zu liefern. Ich muss in der Lage sein, dem Endkonsumenten heute über Mobile-Scanning-Apps und zukünftig über ein Wearable die Möglichkeit zu geben, nicht nur die Produkte zu scannen, um sie direkt zu bezahlen, sondern auch, um sie zu identifizieren. Damit gebe ich ihm direkt Zugriff auf die Aspekte des Produkts, die ihn interessieren und die letztlich eine Verkaufsentscheidung unterstützen oder herbeiführen können. Dann habe ich insbesondere für eine Produktpalette, die breit und tief ist, einen unglaublichen Vorteil. Man sieht im Online-Handel ganz klar, dass Aspekte wie der Zugriff auf Produktbewertungen und Produktinformationen absolut verkaufstreibend wirken. Gerade da sehen wir die Verwendung des Smartphones im Handel für Mitarbeiter und für Kunden als Beitrag, den stationären Handel zu digitalisieren und neu zu denken. Aber auch die Verwendung von alternativen, kamerabasierten Technologie-Trägern, Robotern, Drohnen und stationären Kameras in den Filialen kann dazu beitragen, Informationen zur richtigen Zeit am richtigen Ort verfügbar zu machen. So kann eine nahtlose und möglichst reichhaltige Einkaufserfahrung möglich gemacht werden.

Location Insider: Vielen Dank für das Interview!


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