Interview: Worauf sich Einzelhändler bei der digitalen Transformation fokussieren sollten.

von Florian Treiß am 03.Februar 2021 in Interviews, News

„Einst erfolgreiche Händler sind derzeit in massiven Schwierigkeiten und müssen ihr physisches Ladennetzwerk teilweise stark reduzieren. Das liegt zum einen natürlich an den Lockdowns. Grund ist aber auch, dass sie es nicht geschafft haben, stationäre Geschäfte und digitale Angebote ineinander zu integrieren“, sagt Olivier Goethals, Retail-Experte beim Beratungshaus Publicis Sapient. In den vergangenen zwei Jahren war er interimsweise beim französischen Handelskonzern Carrefour in technologischen Führungsrollen angestellt und trieb die digitale Business Transformation des Unternehmens maßgeblich voran. Wir haben mit ihm darüber gesprochen, worauf sich Einzelhändler bei der digitalen Transformation fokussieren sollten.

Location Insider: Viele Einzelhändler kämpfen derzeit ums Überleben, gerade angesichts des erneuten Corona-Lockdowns. Liegt dieser Überlebenskampf nur an Corona – oder womöglich auch am mangelnden Willen der vergangenen Jahre, sich zu transformieren?

Oliver Goethals: Der Überlebenskampf liegt sicherlich auch an der fehlenden Veränderungsbereitschaft und dem mangelnden Transformationswillen. Covid-19 hat die Verlagerung der Verbraucheraktivitäten auf die digitalen Kanäle massiv beschleunigt. Einst erfolgreiche Einzelhändler, die ihre Transformation nicht fokussiert genug vorangetrieben haben, sehen sich daher aktuell in großen Schwierigkeiten. Sie sind nicht dafür gerüstet, ihre Produkte online zu verkaufen oder „Click & Collect“ in ihren stationären Geschäften anzubieten. Häufig haben sie auch nicht die technischen Möglichkeiten, Online-Bestellungen direkt aus ihren physischen Läden zu bedienen. All diese Faktoren führen dazu, dass sie auf großen Mengen unverkaufter Waren sitzen bleiben und starke Verluste hinnehmen müssen.

Location Insider: Sie haben interimsweise beim französischen Handelskonzern Carrefour die digitale Business Transformation vorangetrieben. Wie kann man sich einen solchen Prozess vorstellen?

Oliver Goethals: Carrefour begann mit seiner digitalen Business Transformation Ende 2017, als der neue und aktuelle CEO an Bord kam. Sein Auftrag war es, Carrefour wieder auf Wachstumskurs zu bringen, um langfristig die Nummer 1 in Frankreich zu werden. Dafür musste der Handelskonzern sich im digitalen Bereich fundamental verändern. Für die Transformation zog Carrefour das Beratungshaus Publicis Sapient zu Rate. Wir starteten mit einer achtwöchigen Strategiephase. Zusammen mit dem Carrefour-Management im Pariser Headquarter arbeiteten wir intensiv an folgenden vier Haupthemen.

  • One Carrefour: Wie lassen sich die zahlreichen Websites und Apps von Carrefour sinnvoll in einer Website bzw. einer App zusammenführen, die eine einheitlichen Customer Experience bietet und auf einem modernen Technologieansatz basiert? In diesem Programm haben wir die Website www.carrefour.fr und eine neue App für das konsolidierte Carrefour-Portfolio entwickelt.
  • Food E-Commerce: Wie muss das künftige Omnichannel-Angebot von Carrefour im Lebensmittel-Bereich aussehen? Mit diesem Fokus haben wir unter anderem neue Konzepte wie das heute sehr erfolgreiche Click & Collect-Angebot Drive Piétons für kleinere Supermärkte in Fußgängerzonen entwickelt.
  • Ways of Working: Wie müssen Arbeitsweisen und Organisationsstrukturen bei Carrefour verändert werden, um schneller, qualitativ besser und wertorientierter liefern zu können? Vor diesem Hintergrund haben wir die künftige Organisation von Carrefour gestaltet, die heute aus agilen Produktteams besteht. IT- und Business-Mitarbeiter arbeiten dabei Hand in Hand in einem digitalen Hub.
  • Data: Wie lässt sich die Vielzahl der Daten über Konsumenten, Produkte und Logistik zusammenführen, um dadurch Mehrwehrt zu generieren? Hier haben wir unter anderem definiert, wie man Echtzeit-Vorhersagen bezüglich der Produktverfügbarkeit treffen kann, oder wie man personalisierte Warenkorbvorschläge erzeugen kann.

Nach der Strategiephase begann Publicis Sapient direkt mit der Umsetzung. Wir implementierten die neue Organisationsstruktur und agile Arbeitsweisen, damit Carrefour schnellstmöglich positive Ergebnisse erzielen konnte. Dem neuen Team gelang es, innerhalb von nur sechs Monaten die konsolidierte Carrefour.fr-Website zu entwickeln, basierend auf einer modernen Cloud- und Microservices-Architektur. Seitdem wird die digitale Plattform mit mehreren Releases pro Woche stetig erweitert. Der Fokus liegt dabei auf der Kundenzufriedenheit und dem Umsatzwachstum.

Die Resultate können sich sehen lassen: Die Kundenzufriedenheit, gemessen am Net Promoter Score (NPS), hat sich um das 25-fache verbessert. Carrefours Wachstum im Bereich E-Commerce ist viermal höher als das anderer französischer Lebensmitteleinzelhändler. Dazu kommt, dass die Plattform extrem stabil und skalierbar ist. Sie konnte die durch die Covid-Krise massiv erhöhte Nachfrage problemlos bewältigen.

Location Insider: Der Lebensmittelhandel selbst ist in Deutschland nicht vom Lockdown betroffen. Wieso ist ein digitaler Wandel dennoch auch für diesen Handelszweig so wichtig?

Oliver Goethals: Das Konsumverhalten wird sich langfristig verändern und in den digitalen Bereich verschieben. Um weiter wachsen zu können, wird sich der Lebensmittelhandel entsprechend anpassen müssen. Laut einer Studie der Bundesverband E-Commerce und Versandhandel Deutschland e.V. lagen die Online-Umsätze für Lebensmittel zwischen Oktober und Dezember 2020 mehr als 83 Prozent über dem Vorjahresniveau. Diese Zahlen sind zwar durch die Covid-19-Krise bedingt, aber auch nach der Pandemie sind im Online-Bereich hohe Wachstumsraten zu erwarten, denn die Konsumenten gewöhnen sich an den Komfort des E-Commerce.

Aktuelle Angebote von REWE oder Picnic sind heute schon sehr erfolgreich. Auch Amazon Fresh ist in mehreren Städten verfügbar. Lebensmittelhändler sollten also motiviert sein, zeitnah eigene Angebote auf den Markt zu bringen. Im Vergleich zu anderen Ländern wie Frankreich ist das Click & Collect-Angebot für Lebensmittel in Deutschland sehr überschaubar. Dieser Bereich birgt großes Wachstumspotenzial.

Location Insider: Digitale Trends für den Handel klingen mitunter wie Bullshit-Bingo. Wie relevant sind denn Dinge wie Click & Collect, Omnichannel, Self Checkout oder autonome Läden wirklich?

Oliver Goethals: Einst erfolgreiche Händler sind derzeit in massiven Schwierigkeiten und müssen ihr physisches Ladennetzwerk teilweise stark reduzieren. Das liegt zum einen natürlich an den Lockdowns. Grund ist aber auch, dass sie es nicht geschafft haben, stationäre Geschäfte und digitale Angebote ineinander zu integrieren. Folglich bleiben sie auf riesigen Mengen unverkaufter Waren sitzen. Die Rolle des stationären Handel wird sich auch nach der Krise weiter verändern. Konsumenten erwarten den Ausbau digitaler Angebote, beispielsweise Ship-from-Store, Endless Aisle oder Terminbuchungen für die Anprobe von vorab online ausgewählten Kleidungsstücken. Um langfristig zu überleben, müssen Händler jetzt handeln und ihr digitales Angebot mit einem Fokus auf nahtlose Omnichannel-Experiences ausbauen.

Im Lebensmittelbereich werden Click & Collect und Self Checkout in der Zukunft hochrelevant sein. Da die Margen in der Lebensmittelbranche sehr niedrig sind, müssen Händler alle verfügbaren Möglichkeiten nutzen, um mehr Fußverkehr in die Läden zu bringen und Kosten zu sparen. Click & Collect ist der perfekte Ansatz, um Kunden ins Geschäft zu locken. Meiner Erfahrung nach kaufen mehr als ein Drittel der Verbraucher, die über Click & Collect bestellte Lebensmittel abholen, weitere Produkte im Laden.

Self Checkout oder Self Scanning, bei dem die Produkte direkt über das Smartphone eingescannt werden, sparen nicht nur Personalkosten. Sie ermöglichen ein positives Kundenerlebnis, da die Lösungen bequem sind und Zeit sparen, vor allem wenn der Einkaufskorb relativ klein ist. Autonome Läden werden in Zukunft noch mehr Komfort bieten. Aktuell sind sie jedoch noch zu teuer, um ihren Ausbau jetzt schon massiv voranzutreiben. Dies dürfte sich in den nächsten Jahren ändern.

Location Insider: Auf welche Themen sollten sich Einzelhändler denn generell in diesem und womöglich auch in den nächsten Jahren fokussieren?

Oliver Goethals: Einzelhändler müssen zeitnah folgende drei Themen fokussieren:

  • Die Modernisierung der digitalen Plattformen und Arbeitsweisen: Es gilt, die Technologielandschaft im Unternehmen vollumfänglich auf den Prüfstand zu stellen und auf eine moderne, cloudbasierte Architektur mit Microservices umzustellen. Außerdem muss sich das Modell der Zusammenarbeit mit externen Partnern wandeln. Nur wenn Einzelhändler interne Engineering-Teams aufbauen, werden sie die Technologielandschaft langfristig selbst beherrschen können. Zudem ist es unabdingbar, eine agile und wertorientierte Arbeitsweise der Mitarbeiter zu forcieren und die Silos, die häufig zwischen Business- und IT-Teams vorherrschen, aufzubrechen.
  • Der Umstieg auf ein Unified Commerce-Modell: Einzelhändler müssen zudem sicherzustellen, dass alle Berührungspunkte mit dem Kunden aus funktionaler Sicht und im Hinblick auf den Kundenservice konsistent sind. Dies gelingt, wenn alle Touchpoints in einem einzigen Set von Omnichannel-Enterprise-Services miteinander verbunden sind. Außerdem muss der Einsatz von In-Store-Technologien entsprechend angepasst werden. Einzelhändler müssen sich teilweise von traditionellen POS-Lösungen verabschieden und mehr auf Standardhardware und mobile Devices setzen.
  • Das Schaffen einer 360°-Sicht auf das Unternehmen: Um eine holistische Betrachtung aller relevanten Parameter zu ermöglichen, sollten Einzelhändler den Aufbau einer Cloud-basierten Datenplattform forcieren, die alle Unternehmensdaten bezüglich Kunden, Produkten, Warenbestand und -lieferungen zusammenführt. Eine solche Plattform kann dafür genutzt werden, einen Supply Control Tower aufzubauen, der es erlaubt, schnell auf Anomalien zu reagieren. Sie kann außerdem als Basis für eine Customer Data Platform (CDP) dienen, um für eine Welt ohne Cookies gerüstet zu sein.

Location Insider: Viele der aktuellen Trends klingen sehr IT-getrieben und stellen interne Prozesse in den Mittelpunkt? Was merken davon am Ende die Verbraucher?

Oliver Goethals: Es stimmt, dass die aktuellen Trends von IT-Themen dominiert werden. Gerade hier hat der Einzelhandel massiv aufzuholen. IT wurde viel zu lange als Kostentreiber und isoliertes Thema betrachtet, das weit weg vom eigentlichen Geschäft schien. In Zukunft wird jedoch das digitale Business im Fokus stehen. Daher wird die IT zur zentralen Funktion im Unternehmen. Nur wenn Einzelhändler ihren Investitionsrückstand abbauen und jetzt in neue Technologien investieren, werden sie künftig schnell und effizient auf das sich wandelnde Kundenverhalten reagieren können.

Für Verbraucher bedeutet dies mehr Komfort und einen besseren Service. Konsumenten werden in die Lage versetzt, ihre Einkäufe wann, wo und wie auch immer sie wollen, zu tätigen. Wenn die Händler ihre Kunden identifizieren können und deren Präferenzen kennen, wird auf allen Kanälen ein hochpersonalisiertes Einkaufserlebnis möglich. Kunden werden relevantere Produktempfehlungen erhalten. Auch die individuelle Personalisierung von Produkten wird möglich. Den Handel wiederum befähigen die modernen digitalen Plattformen, bessere Treueprogramme aufzusetzen und loyale Kunden stärker zu belohnen.

Location Insider: Wie beurteilen Sie den Trend „Direct to Consumer“?

Oliver Goethals: „Direct-to-Consumer“ wird sich in den kommenden Jahren massiv weiterentwickeln. Da Kunden immer mehr über digitale Kanäle mit Einzelhändlern und Marken interagieren, bieten sich Herstellern neue Möglichkeiten, direkte Beziehungen zu den Verbrauchern aufzubauen. Dank der Digitalisierung stehen immer mehr Kundendaten und direkte Kommunikationsmöglichkeiten zu Verfügung. Auch Partnerschaften von Herstellern und Händlern bieten großes Potenzial. Sie versetzen in die Lage, Produkte und Markenerlebnisse viel stärker auf die Konsumenten abzustimmen. Dazu kommt die starke Etablierung von Smart-Home-Produkten. Sie eröffnet den Herstellern neue Wege zum Austausch mit den Verbrauchern und zum Vertrieb ihrer Waren. Marken werden künftig durch eigene vernetzte Produkte wie elektrische Zahnbürsten, Kaffeemaschinen oder Waschmaschinen einen direkten Draht zu den Konsumenten aufbauen und automatisch Nachschub organisieren können. Das Gerät meldet, wenn es Zeit für einen neuen Zahnbürstenkopf, Kaffee oder Waschmittel ist, und bestellt selbst Ersatz.

Location Insider: Wird die Grenze zwischen Hersteller und Händler irgendwann komplett verschwinden?

Es ist jedoch nicht zu erwarten, dass die Grenze zwischen Herstellern und Händlern komplett verschwinden wird. Die gilt insbesondere für Massenprodukte, bei denen die Marge klein ist. Um diese Produkte schnell und kosteneffizient an die Konsumenten zu bringen, bedarf es einer ausgefeilten B2C-Logistik. Die meisten Hersteller haben in diesen Bereich wenig Erfahrung, da sie auf B2B-Szenarien spezialisiert sind, in denen Palletten mit riesigen Mengen verfrachtet werden. Hersteller dürften in Zukunft also gerade im Logistikbereich intensiver mit den Händlern zusammenarbeiten, um ihre Produkte an die Verbraucher zu liefern. Dabei werden sie darauf bestehen, die Beziehung mit dem Konsumenten zu kontrollieren. Die Rolle des traditionellen Händler entwickelt sich damit stärker in Richtung von Lieferanten. Sie werden hier künftig mit Amazon und spezialisierten Logistikunternehmen konkurrieren müssen.

Location Insider: Ein Wort noch zu Ihrem Unternehmen: Was genau macht Publicis Sapient eigentlich und was für Kunden haben Sie im Einzelhandel und auch E-Commerce?

Oliver Goethals: Als Partner für digitale Business Transformation begleitet Publicis Sapient seit 30 Jahren Unternehmen auf ihrem Weg in die digitale Zukunft. Wir helfen, digitale Fähigkeiten zu aktivieren und kontinuierlich wachsenden Kundenerwartungen bestmöglich zu entsprechen, um neue Wertschöpfungs- und Wachstumspotenziale zu eröffnen. Dazu verbinden wir Strategie, Beratung und Customer Experience mit agilem Engineering und kreativer Problemlösungskompetenz. Wir sind 20.000 digitale Pioniere an 53 Standorten auf der ganzen Welt. Zu unseren Kunden im Bereich Einzelhandel und E-Commerce zählen globale Unternehmen wie Carrefour, Walmart, Nestlé, Nivea und Bang & Olufsen.

Location Insider: Vielen Dank für die spannenden Antworten!


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