SoLoMo – Always-on im Handel: Auszug aus Prof. Dr. Gerrit Heinemanns neuem Buch.
von Gastautor am 31.Januar 2014 in Trends & AnalysenHeute erscheint im Springer Gabler Verlag das Buch SoLoMo – Always-on im Handel. Die soziale, lokale und mobile Zukunft des Shopping von Prof. Dr. Gerrit Heinemann. Tenor des Buches: Das Shopping der Zukunft zeichnet sich durch ein begleitendes Zusammenspiel von sozialer Vernetzung, Lokalisierung und mobiler Internetnutzung beim Ladenbesuch aus. Dieser Dreiklang bildet die Basis für die „Synergien des SoLoMo“, die ganz neue Möglichkeiten der Vermarktungseffizienz insbesondere für stationäre Händler erlauben. Pünktlich zum Erscheinen veröffentlichen wir heute Auszüge aus dem Buch, das auf dem Deutschen Handelskongress Ende November in Berlin in der Keynote von Dr. Michael Otto, Aufsichtsratsvorsitzender und ehemaliger Vorstandsvorsitzender der Otto Group, angesprochen wurde und Prof. Dr. Gerrit Heinemann explizit als Referenz für SoLoMo genannt wurde.
Einleitung
Von Prof. Dr. Gerrit Heinemann
Mobiles Internet und Smartphones ermöglichen Kommunikation an jedem Ort und zu jeder Zeit. In Kombination mit Social Media führen sie darüber hinaus zu einer neuen Art der Interaktion und revolutionieren das Einkaufsverhalten, indem Nutzer zunehmend Informationen zu ihrem Aufenthaltsort und zu lokalen Angeboten teilen. Diese werden nicht mehr zeitversetzt, sondern in Echtzeit mit dem Netzwerk ausgetauscht. Insofern ist das soziale Netzwerk in Verbindung mit Mobile Devices Begleiter in allen Lebenssituationen und zu allen Themen. Es verändert die Definition von Privatsphäre, denn ein Teil des eigenen Lebens wird dadurch öffentlich. Virtuelle Identitäten dienen der Selbstdarstellung und werden insbesondere für die jüngeren Internet-Nutzer –Digital Natives – essentiell. „Menschen sind damit einverstanden, Informationen über sich mit anderen zu teilen“, so Marc Zuckerberg. Insofern kann die soziale Mediennutzung nicht mehr isoliert betrachtet werden. Sie findet immer mehr im Zusammenspiel mit Lokalisierung und Location Based Services sowie mobiler Internet-Nutzung statt. Dieses Zusammenspiel bildet die Basis für die „Synergien des SoLoMo“, die sich aus der sozialen, lokalen und mobilen Vernetzung (SoLoMo) ergeben und ganz neue Möglichkeiten der Vermarktungseffizienz erlauben. Da die Anzahl der Intensivnutzer von Smartphones und mobilem Internet in den nächsten Jahren rasant anwachsen wird, dürfte auch die SoLoMo-Vernetzung in gleichem Ausmaß zunehmen. Per Ende Juli 2013 nutzen in Deutschland 46 Prozent der deutschen Wohnbevölkerung bereits ein Smartphone – so eine aktuelle Erhebung von kaufDA, die im Buch detailliert dargestellt wird. Die Anzahl der genutzten Smartphones in Deutschland dürfte insofern bereits vor Jahresende 2013 die 30-Millionen-Grenze deutlich überschritten haben.
Gliederung des Buches
- „Always-on und Always-in-Touch“ – das neue Kaufverhalten
- Social Commerce als Basisfaktor Nr. 1 des SoLoMo
- Location Based Services als Basisfaktor Nr. 2 des SoLoMo
- Mobile-Commerce als Basisfaktor Nr. 3 des SoLoMo
- Studie – Status und Potenziale von Location Based Services
Auszug: Social Commerce als Basisfaktor Nr. 1 des SoLoMo
2.1 Bedeutung und Stellenwert des Social Media
2.1.1 Aktuelle Entwicklung des Social Media
Der Begriff Social-Media oder neuerdings auch Sozial Internet kann synonym mit dem Begriff Web 2.0 verwendet werden. Im Rahmen von Social Media können Informationen sowohl in verbaler als auch in multimedialer Form Verwendung finden. Dieses betrifft zum Beispiel Fotos, Videos, Musik, Sprachaufzeichnungen und Spiele (vgl. Heymann-Reder 2011, S. 20). Über Social-Media wird die Kommunikation in der Regel weltweit vernetzt und schafft neue Möglichkeiten der Interaktion für Nutzer und auch für Unternehmen. Bekannte Social-Media-Plattformen sind neben Facebook insbesondere Twitter, Google+, YouTube, LinkedIn, Pinterest und Polyvore. MySpace gilt zwar als „Social-Media-Pionier“, hat aber mehr oder weniger ausgedient. Demgegenüber spielt YouTube als Video-Sharing-Plattform mittlerweile eine herausragende Rolle und ist eine globale und nicht mehr wegzudenkende Institution. Die vorerst mit Abstand gängigste Form von Social Media ist die Verbindung einer Website mit Facebook, wovon allerdings viele deutsche Online-Händler bisher noch nicht Gebrauch machen. Häufig besteht Unsicherheit darin, welche Ziele mit Social Media verfolgt werden sollen. Sie schöpfen damit das Potenzial einer Facebook-Verbindung nicht aus und belassen es in der Regel bei einem einfachen Like-Button. Dieser bewertet dann häufig nur den Shop an sich, jedoch nicht das einzelne Produkt. Ein automatisierter Verbreitungsmechanismus bleibt damit ungenutzt (vgl. Social Media 2011, S. 36). Ein gutes Beispiel für mögliche soziale Vernetzungen liefert Groupon. Dort werden pro Seite vier Verknüpfungen zu Facebook geboten, und zwar zwei direkte Share-Buttons, eine multifunktionale Empfehlungsbox von Freunden sowie eine Like-Box. Diese zeigt Zahlen und Bilder von Fans. Groupon beziffert den aus Facebook generierten Traffic auf drei bis fünf Prozent der Gesamtfrequenz (vgl. ebenda). Für die meisten Plug-ins fehlt allerdings in Deutschland die Durchdringung. Außerdem steigt die Ladezeit der Seiten mit dem Button. Zudem muss der Werbetreibende die Verwendung von Facebook-Social-Plug-ins in seinen Datenschutzhinweisen erläutern. Von den acht Standard-Plug-ins erweist sich eigentlich nur der Like-Button und der Single Sign-on als nützlich. Für viele Experten sind die Social-Plug-ins allerdings sowieso nur der Einstieg. Als Königsdisziplin wird diesbezüglich die Umsetzung eigener Ideen nach Vorbild des Open Graph gesehen, um Daten und Bilder aus dem Profil der Nutzer zu verwenden.
Etsy nutzt z. B. die Abstimmung von Nutzer- und Freundesdaten mit eigenen Produktmerkmalen, um Geburtstagsempfehlungen auszusprechen. Die Reichweite von Facebook muss bei der Integration in den Web-Shop noch nicht aufhören. So liegt die Integration zum POS (Point of Sale) nahe. Das Potenzial durch Leverage des Social Graph ist beträchtlich. Wie Abb. 2.1 zeigt, verfügt ein Facebook-Mitglied über durchschnittlich 150 Kontakte, so dass bereits in zweiter Stufe 150 mal 150, also 22.500, und in dritter Stufe über 3,3 Mio. Mitglieder erreichbar sind. Dieses kann einerseits zum Management bestehender Communities, andererseits zur Kundengewinnung genutzt werden.
Die Google Incorporation, die nach Aussagen ihres ehemaligen CEO die Bedeutung der sozialen Vernetzung zu lange unterschätzt hat, ist mit Google+ durchgestartet und zielt genau in die Schwachstelle von Facebook: Nicht jeder Kontakt bedeutet automatisch Freundschaft. So werden bei Google+ die Online-Bekannten in Kreisen zusammengeführt, denen dann gezielt Information zugeteilt werden. Dabei geht es Google wohl in erster Linie darum, eine Facebook-ähnliche Plattform zu bieten, um so den Social Circle zu schließen und nicht mehr abhängig von Facebook sein zu müssen (vgl. Internet World Business 2011 Nr. 12, S. 3; Die Welt vom 30. Juni 2011, S. 12). Innerhalb von kürzester Zeit ist es Google damit offensichtlich gelungen, Facebook und Twitter in die Defensive zu bringen (vgl. FAZ 2011, Nr. 156, S. 11). Insofern hat Google+ in relativ kurzer Zeit hohe Mitgliederzuwächse zu verzeichnen. Experten erwarteten, dass mit diesem erst 2011 eingeführten privat/beruflichen Netzwerk zukünftig ein neuer Gigant mit Facebook gleichziehen kann (vgl. Spiegel 2011).
2.1.2 Historie und Phasen des Social Media
Social Media ist nicht so neu, wie angesichts der aktuellen Diskussion angenommen wird. Die Anfänge von Social Media gehen auf das Community-Marketing der Musikindustrie und damit auf die Vorzeit des Internets zurück. Dieses bildete sich aus dem überwiegend militärisch genutzten Apranet seit Ende der sechziger Jahre heraus und wurde 1993 öffentlich (vgl. Beckmann und Schulz 2008, S. 138 ff.). Erste Online Music Communities wie „MySpace“ entstanden bereits in der Startphase des Internets in den neunziger Jahren (vgl. ebenda). Nach dem Platzen der Internet-Blase im Jahre 2001 erfand sich das Netz als so genanntes Web 2.0 neu (vgl. Weinberg 2010, S. 4 ff.) Dabei stellt Web 2.0 und später Social Media im Grunde die Zurückeroberung des Webs durch den User dar. Die Emanzipation der Nutzer war auch Ursprungsidee des Internets, die allerdings durch dessen spätere Kommerzialisierung etwas in den Hintergrund gedrängt worden war. Social Media zielt darauf ab, die Nutzer stärker zu involvieren und Communities aller Art zu bilden, um Dialoge herzustellen. Dabei sollte aus passiven Nutzern aktive „Prosumenten“ werden. Als Prosumenten werden Teilnehmer bezeichnet, die im Dialog nicht nur „aktive und mündige Partner von Unternehmen sind“ (denk-selbst 2009), sondern das Netz insgesamt mitgestalten. Dazu wurden zunächst Foren und Webblogs aller Art genutzt. Später entstanden mit der Weiterentwicklung von MySpace und danach mit der Gründung von Facebook private soziale Netzwerke. Diese wurden mit einer gigantischen Mitgliederzahl zu Bestandteilen des täglichen Lebens.
Die Entwicklung virtueller Gemeinschaftsformen, in die sich Social Media einreiht, ist in Abb. 2.2 dargestellt. Social Media beschreibt diesbezüglich die Möglichkeit, auf Community-Webseiten wie z. B. Blogs, Internet-Foren, Netzwerken, Bild- und Videoportalen, Wikis, Podcasts sowie nutzergenerierten Web-Seiten, Erfahrungen und Informationen zu teilen und auch Beziehungen mit anderen Nutzern einzugehen (vgl. Weinberg 2010, S. 23 ff.). Insgesamt stellt Social Media mittlerweile aber keine reine Kommunikationsplattform mehr dar. Es zeichnet sich ab, dass soziale Plattformen neben Kommunikationszwecken auch für den unmittelbaren Verkauf von Produkten eingesetzt werden und dadurch stärker als bisher wieder kommerzialisiert werden, wie auch der Begriff „F-Commerce = Facebook-Commerce“ unterstreicht (vgl. von Kuhnhardt 2012).
2.1.3 Stellenwert und Relevanz von Social Media
Der Stellenwert von Social Media ist im Zusammenhang mit der weltweiten Internet-Penetration zu sehen. Diese wird eindrucksvoll durch die Größe der Facebook-Gemeinde dokumentiert. Über 1 Milliarde Nutzer sollen ihr mittlerweile angehören, davon rund 26 Mio. in Deutschland (vgl. fanpagelist 2012). Google+ dürfte inzwischen auf mehr als 200 Mio. monatliche Nutzer weltweit kommen (vgl. Firsching 2013) und wächst rasant. Zusammengenommen sind mindestens 1.5 Mrd. Menschen in sozialen Netzen aktiv. Unter ihnen entwickelt der Informationsaustausch im Zuge des „Social Networking“ eine völlig neue Dynamik. Die Nutzer sind zwar tendenziell eher jung und mit einer leichten Differenz eher männlich. Allerdings nutzt bereits mehr als jeder zweite der über 50-Jährigen dieses Medium (vgl. ARD-ZDF 2012). Der Zugang zu sozialen Netzen erfolgt dabei zunehmend über mobile Geräte. Rund 54 % der Facebook-Nutzer tun dies bereits (vgl. socialbakers 2012; von Kunhardt 2012).
Wie das Fallbeispiel LG-Electronics zeigt, trifft dies schon für 70 % der Serviceanfragen zu. Bereits mit wenigen Postings im Netz, die vom Unternehmen selbst kommen, können ungewöhnlich hohe Reichweiten erzielt werden. Nur 47 Blogpostings waren bei LG-Electronics in der Lage, mehr als 30.000 Serviceanfragen im Vorfeld selbst beantworten zu lassen, ohne dass die Hotline beansprucht wurde (Ich-sag-mal 2011; Heinemann 2012a, S. 10).
2.1.4 Zukunftsaussichten von Social Media
In 2014 wird fast jeder zweite Deutsche ein Smartphone nutzen und dieses als natürlichen Bestandteil seiner Einkaufsprozesse betrachten (Go-Smart-Studie 2012, S. 31). Diese zukünftigen Kunden erwarten auf ihrem Smartphone ein weitaus größeres Leistungsspektrum, als sie es aus der stationären Internet-Nutzung kennen. Vor allem lokale Funktionen und soziale Netzwerke werden durch Smartphones eine noch größere Rolle spielen als heute schon. Dieses so genannte SoLoMo-Phänomen wird auch dadurch befeuert, dass die Nutzer online relevant bleiben wollen. Dieses gilt bereits für die Smart Natives, für die ein permanenter Zugang zum digitalen Datenstrom normal ist. Sie fordern mobile Angebote, die sie permanent auf dem Laufenden halten und mit ihrem Netzwerk austauschen können. Diesbezüglich schaffen lokale Echtzeit-Angebote mit Geo-Locating, weiter steigende Reaktionsschnelligkeiten, Realtime-Information sowie Augmented Reality interessante mobile Mehrwerte für die SoLoMo-Nutzer. Ein Mehrwert ist bereits heute unbestritten der Online-Einkauf (Go-Smart-Studie 2012, S. 30–31; Mindwyse 2011; Heinemann 2012b). Er ist bequem und vielfältig sowie 24 h täglich ortsungebunden möglich. Trotzdem gehen Experten nicht davon aus, dass stationäre Läden völlig verschwinden werden (eBay 2012).
Die Konsumenten wollen nicht alles online einkaufen, allerdings auch nicht auf die Vorteile eines Kanals verzichten müssen, nur weil Sie gerade einen anderen Kanal nutzen. Einige Unternehmen ermöglichen deswegen ihren Kunden das parallele Shoppen. Dieses sollte allerdings nicht zu einer Abwanderung der Kunden führen. Deswegen arbeiten verschiedene Einzelhändler derzeit an Social-Media-Strategien (vgl. Heinemann 2012b). Auch in der Markenartikelindustrie stellt sich zunehmend die Frage, welche Rolle Social Media künftig spielen soll. Diesbezüglich liefert eine Untersuchung von Social Minds aus 2012 interessante Hinweise in Hinblick auf die Erwartungen der Kunden an das Marken im sozialen Netz (vgl. Horizont 44/2012). Wie Abb. 2.3 zeigt, geht es dabei vor allem um Glaubwürdigkeit und Authentizität. Neben schnellen und ehrlichen Hinweisen von Anbieterseite geht es den Nutzern vor allem auch um Empfehlungen für bestimmte Marken (36 %) und konkrete Kaufempfehlungen (47 %). In 38 % der Fälle erwarten die User auch konkrete Empfehlungen für den Nichtkauf, wenn schlechte Erfahrungen mit dem Produkt gemacht wurden.
2.2 Social Commerce als neue Form des Handels
Social Commerce kann als Symbiose von E-Commerce und Social Media angesehen werden (vgl. Haarhaus 2013). Bereits heute wird die Online-Umwelt stark durch Social Media beeinflusst. Insofern sind die Übergänge mehr oder weniger fließend. Deswegen sollen im Folgenden sowohl die Entwicklungsstufen als auch die unterschiedlichen Formen des Social Commerce beleuchtet werden. Die Ausführungen beziehen sich auch auf eine vom Autor betreute Master-Thesis von Heike Haarhaus zu diesem Thema (vgl. Haarhaus 2013).
2.2.1 Besonderheiten und Relevanz des Social Commerce
Obwohl Social Commerce sicherlich eines der am meisten diskutierten Online-Themen der letzten Zeit ist, liegt noch keine genaue Begriffsbestimmung vor (vgl. Haarhaus 2013). Die bestehenden Definitionen werden in der Regel sehr breit gehalten. Während beinahe jeder über Social Commerce spricht, verstehen offensichtlich nur recht wenige Firmen das dahinter liegende Konzept richtig. In den meisten Fällen wird unter dem Begriff allenfalls Social Marketing verstanden (vgl. Chaney 2012b). Um mehr Klarheit in die Diskussion zu bringen, wird Bezug genommen auf die beiden Komponenten E-Commerce und Social Media. Auf Basis dieser beiden Komponenten hat Heike Haarhaus eine Checkliste für Social Commerce entwickelt. Die erste Komponente „E-Commerce“ stellt ganz klar den Transaktionsbezug heraus, wodurch der Ankauf und Verkauf von Produkten oder Services via Internet eine wesentliche Bedingung ist (vgl. Haarhaus 2013; Wikipedia 2012a). Bezugnehmend auf Kollmann, besteht E-Commerce im Wesentlichen aus den vier Komponenten Content, Commerce, Context und Connection. In den Anfangsjahren war das Internet durch den E-Content und die E-Connection dominiert (vgl. Kollmann 2009, S. 12 f.). In den letzten Jahren haben sich allerdings verschiedenste Online-Services etabliert, die mehr als eine dieser Komponenten in sich vereinen, wodurch eine exakte Kategorisierung schwierig geworden ist. Wirtz definiert E-Commerce als „Initiierung, Verhandlung und Ausführung von geschäftlichen Transaktionen via Internet“ (Wirtz 2008; Heinemann und Schwarzl 2010). Diese Definition kennzeichnet die Transaktion als wesentliche Voraussetzung für das E-Commerce. Diese ist Schlüsselfaktor bei der Abgrenzung zu anderen Formen des E-Business.
Eher generelle Definitionen und Erklärungen des Social Commerce heben hervor, dass dieses mehr indirekt zum Umsatz beiträgt und weniger als direkter Verkauf zu verstehen ist (vgl. Lückemeier 2012). Ein derartiges Verständnis mag in vielen Fällen richtig sein, allerdings bedarf die Möglichkeit echter „In-stream-Transaktionen“ ganz anderer Lösungen, die den gesamten Einkaufsprozess berücksichtigen. Wenn allerdings ein Konsument im sozialen Netzwerk nicht „in-stream“ bezahlen kann, handelt es sich folglich nicht um Social Commerce, sondern allenfalls um Werbung bzw. Kommunikation (vgl. Chaney 2012a). Als zweite Komponente neben E-Commerce ist Social Media zu berücksichtigen oder zumindest soziale Features beim Einkauf. Der Begriff „social“ deutet bereits auf eine natürliche Charakterisierung von Menschen und ihrer Bedürfnisse für Koexistenz und Interaktion untereinander hin (vgl. Wikipedia 2013). Sozial zu sein bedeutet, dass Menschen es mögen, miteinander zu interagieren und kommunizieren. Deswegen ist ein soziales Netzwerk mit bestehenden Freunden von herausragender Bedeutung. Diese soziale Komponente ist omnipräsent und nimmt maßgeblichen Einfluss auf die Einkaufsaktivitäten. Während auch beim Offline-Shopping die Konsumenten gerne kommunizieren sowie Empfehlungen und Ratschläge erhalten, bietet der stationäre Einkauf – wenn gewünscht – auch weitere, darüber hinausgehende Unterstützungsmöglichkeiten. Und dabei werden alle sozialen Interaktionen beim stationären Einkauf auch in „real-time“ dargeboten.
Was das aber für Social Commerce bedeutet, bedarf einer weiteren Spezifizierung: Seit die Konsumenten erwarten, dass ihre Online-Einkaufserfahrung dem stationären Einkauf in nichts nachsteht, sind soziale Interaktionsmöglichkeiten quasi zu einem Muss in der Online-Shopping-Welt geworden. Diesbezüglich heißt es, dass Social Commerce eine Art kollektiver Einkaufserfahrung darstellt (vgl. Grabs und Bannour 2011, S. 332). Konsumenten erwarten es, mit solchen sozialen Features unterstützt zu werden, die ihnen eine sofortige Verbindung zu Freunden ermöglichen, wie es z. B. in Chat-Programmen der Fall ist. Sie möchten mit Ratings und Empfehlungen anderer User versorgt werden, idealerweise mit personalisierten Ratschlägen. Chats oder Co-Browsing-Funktionen, die von Konsumenten zum Austausch von Produkterfahrungen oder -meinungen in “real-time“ nutzbar sind, werden von diesen hoch geschätzt und ermöglichen ihnen ein Einkaufserlebnis, das dem Offline-Einkauf in nichts nachsteht (vgl. Weave 2012, S. 223). Derartige Tools werden entwickelt und implementiert, um den Konsumenten smarte und positive Einkaufserlebnisse zu ermöglichen. Im Gegenzug erhalten Händler die Möglichkeit, auf die Kunden zu hören und diese zu verstehen sowie ihnen maßgeschneiderte Lösungen anbieten zu können. (vgl. etailment.de 2012a).
Neben der Offline-Shopping-Erfahrung können auch spezifische Charakteristika des Social Media genutzt werden, um die Parameter des Social-Commerce genauer zu definieren. Wenn sich z. B. in Anlehnung an die Spezifika des Social Media wesentliche Aspekte im User Generated Content (UGC) wiederfinden, deutet dieses ebenfalls auf ein hohes Maß an Interaktivität hin. User Generated Content kann dabei auch gut für ein Community Building im Social-Commerce genutzt werden. User sollen dazu befähigt werden, eine Beziehung mit anderen Konsumenten aufzubauen, was auch Führung verlangt. Social Commerce stellt insofern eher ein sozialwissenschaftliches als ein technologisches Konzept dar, obwohl dieses natürlich im Backend auch einer technologischen Umsetzung bedarf (vgl. Mühlenbeck und Skibicki 2007, S. 198). Bezugnehmend auf den das UGC befähigt Social Media die User auch, zusätzlich als Produzent tätig zu werden. Dieses bedeute, dass Käufer zugleich auch als Verkäufer tätig werden können. Insofern hat eine Umorientierung dahingehend stattzufinden, dass die Konsumenten mit dem Anbieter interagieren und von diesem partizipieren können. Dieses erfordert wiederum eine gewisse Relevanz für das Geschäft, also eine umfassende Berücksichtigung der entsprechenden Einflussmöglichkeiten durch die Kunden im Geschäftsmodell. Deswegen geht Social Commerce auch mit einer neuen Art von Freiheit einher, mit der die User ihre Rolle wählen können, die sie im Rahmen des Transaktionsprozesses spielen möchten. Dabei kann es sich entweder um die Perspektive des Konsumenten, Produzenten oder Ratgebers handeln (ebenda, S. 107). Die Möglichkeit für Kunden, auch aktiv über die Plattform zu verkaufen, kann als höchste Stufe des Social Commerce angesehen werden. Dabei ist die Steigerung des „Customer Values“ ein wesentliches Element des Social Commerce. Dieser stellt insbesondere durch die umfassenden Möglichkeiten des Kunden-Involvements eine völlig neue Betriebsform des Einzelhandels dar (vgl. Marketing-blog.biz 2012). Eine Kundenwertsteigerung kann nur erreicht werden, wenn der Händler neue „soziale Instrumente“ bzw. Web 2.0-Tools bereitstellt. Diese müssen den Kunden in die Lage versetzen, ihre eigenen Probleme lösen oder bei der Lösung anderer Kundenprobleme helfen zu können (vgl. Marsden 2012b). Wenn damit den Usern die Möglichkeit gegeben wird, sich einer gewissen sozialen Intelligenz zu bedienen, können sie auch bessere Kaufentscheidungen treffen, wodurch die Kundenzufriedenheit steigt. Nicht ohne Grund finden sich mittlerweile Online-Händler auf den obersten Plätzen bei der Kundenzufriedenheit (vgl. OCC&C 2012).
Bezugnehmend auf Marsden, beschreibt soziale Intelligenz eine menschliche Fähigkeit, von anderen Leuten einfach durch Beobachtung zu lernen (vgl. Marsden 2012a). Soziale Probleme können beispielsweise dadurch gelöst werden, dass ein gewisser sozialer Status ermöglicht wird. Als Beispiele lassen sich exklusive Fan-Angebote oder limitierte Auflagen mit begrenztem Zugang nennen. Aber auch soziale Verknüpfungen durch Einkaufsangebote wie das „Group Buying“, Online-Gifting oder eine „Wish List“ ermöglichen soziale Sonderstellungen (vgl. Weave 2012, S. 224). Diese Beispiele zeigen, dass der Social Commerce auf Transaktionsmöglichkeiten beruhen muss. Social Marketing und Social Media sind sicherlich im Einzelhandel relativ weit verbreitet, aber nur wenige Unternehmen haben verstanden, dass dazu auch echter Commerce in Social-Media-Portale integriert werden muss. Neben einer „In-stream-Transaction“ sollten auch entsprechende „Social-Tools“ bereitgestellt werden. Weiterhin bedarf es einer aktiven Kundenbeteiligung sowie eines hohen Grades an Personalisierung und Individualisierung. Die Anforderungen an Social Commerce sind in Abb. 2.4 dargestellt. Dabei ist darauf hinzuweisen, dass Social Commerce nicht nur ein Thema ausschließlich für die Online-Welt ist, sondern auch darüber hinausgeht. Moderne Social-Commerce-Aspekte sollten auch im stationären Handel Berücksichtigung finden, was durch das mobile Internet ja auch möglich geworden ist (vgl. Weave 2012, S. 224). Dieser Aspekt wird vor allem im empirischen Teil noch einmal aufgegriffen.
Relevanz des Social Commerce Social Media ist zu einem nicht mehr wegzudenkenden Tool für das Internet geworden und beeinflusst in hohem Maße die Online-Kaufentscheidungen. Es befähigt seine Nutzer, in alle Richtungen sowie untereinander einfach zu kommunizieren. Die Kunden von heute checken die Social-Media-Präsenz ihrer Einzelhändler, dessen Bewertungen und Empfehlungen über sie und tauschen Informationen über spezifische Produkte und Händler in ihrem sozialen Netzwerk untereinander aus (vgl. Weave 2012, S. 224). Aufgrund der dadurch zunehmenden Kommunikation und des durch Social Media angestiegenen Datenaustausches sind Einzelhändler transparenter geworden. Potenzielle Kunden sind jetzt in der Lage, die Aktivitäten, Angebote und Leistungsversprechen der Händler zu überprüfen (vgl. Peters 2011, S. 113). Diese Entwicklungen führen auch zu einer veränderten Customer Journey, weg von einer linearen Reihenfolge von Phasen, hin zu einem kreislaufartigen Entscheidungsprozess mit einer konstanten Feedback-Schleife zum sozialen Netz (vgl. Marsden 2012a). Insofern ist eine neue Einkaufsumgebung für den Einzelhandel entstanden.
Insbesondere die neuen Einstellungen gegenüber sozialen Netzwerken sind Treiber des Social Commerce. In einer Welt aus Social Media und permanentem Feedback über Produkte und Leistungen sind neue Erfolgsfaktoren für die Händler entstanden. Das Web 2.0 ist zu einem entscheidenden Treiber für das Internet und der Mehrzahl aller Einkaufsentscheidungen und damit zum Online-Handel der neuesten Generation geworden (vgl. Heinemann und Schwarzl 2010, S. 1). Eine Untersuchung von Steel-House bestätigt, dass 64 % aller Käufer Produktbewertungen und Empfehlungen vor ihrem Einkauf lesen (vgl. Chaney 2012a). In einer anderen Studie, die von dem Marktforschungsinstitut ipsos und der Agentur Hotwire durchgeführt wurde, bestätigen 56 % der deutschen Internet-User, dass sie eher ein Produkt mit positiven Kommentaren anderer Nutzer kaufen würden. Immerhin 30 % bemerken, dass sie keine Transaktion auf Basis von negativen Bewertungen ausführen würden. Dieses bestätigt, wie wichtig Kommentare, Bewertungen und Rankings für den Einkaufsprozess geworden sind (vgl. Mühlenbeck und Skibicki 2007; Haug 2013; Mindwyse 2011). Die Relevanz eines derartig generierten UGC steigt umso mehr, je besser sich die involvierten Personen persönlich kennen. Dementsprechend haben 75 der befreundeten User angegeben, dass sie sich eher von Freunden, Familienmitgliedern oder Kollegen/-innen vor einem Kauf inspirieren lassen. Deswegen überrascht auch nicht, dass 68 % der Kunden diese – ihnen näherstehende – Gruppe lieber als Informationsquelle für eine Einkaufsentscheidung nutzen (vgl. Intertone 2010). Vor allem Facebook, Twitter und Community-Blogs haben wesentlich die neuen Formen der „Peer-to-Peer“-Kommunikation und -Information im Handel induziert. Eine Untersuchung der Marketingagentur SteelHouse aus 2012 bestätigt die herausragende Rolle von Social-Media-Websites und dabei insbesondere von Facebook. Annähernd die Hälfte der Befragten gab an, dass sie ein auf Social-Media-Seiten bewertetes oder empfohlenes Produkt oder einen Service gekauft hätte (vgl. Chaney 2012a). Konsumenten vertrauen derartigen Informationsquellen deutlich mehr als den Werbekampagnen etablierter Handelsunternehmen. Ein wesentlicher Grund dafür liegt darin begründet, dass derartige traditionelle Werbeformen ohnehin schon als wenig glaubhaft angesehen werden (vgl. Mühlenbeck und Skibicki 2007, S. 76 f.). Abbildung 2.5 illustriert im Detail, in welchem Ausmaß Kunden den unterschiedlichen Werbeformen trauen.
Die Fakten sprechen dafür, dass es immer weniger möglich wird, durch traditionelle Werbung das Einkaufsverhalten zu beeinflussen. Händler sind deswegen gefordert, in ihren Marketingaktivitäten das eher dynamische Einkaufsverhalten der modernen Kunden zu berücksichtigen, wie in der Customer Jouney zum Beispiel beschrieben. Dieses gilt umso mehr für abverkaufsorientierte Werbeinhalte. Es unterstreicht die wachsende Bedeutung von sozialen Filtern im Einkaufsprozess. Zudem realisieren viele Unternehmen, dass immer mehr Kunden-Traffic über Social-Media-Plattformen und dabei insbesondere Facebook auf Basis von Empfehlungen aus dem Facebook-Freundeskreis generiert wird. Kunden, die über soziale Netzwerke auf die Websites kamen, machen bereits 1,3 % des gesamten Online-Traffics aus und führen immerhin bereits zu 1,9 % aller Online-Umsätze per Q2 2012 (vgl. IBM 2012). Einige Händler haben infolge dieser Entwicklung damit begonnen, nach Wegen zu suchen, dieser Entwicklung hin zu interaktiven Einkaufsformen Rechnung zu tragen und damit das Potenzial des Social Commerce zu nutzen. Die Überlegung dabei ist, dass der Austausch von Produktinformationen in sozialen Netzen eigentlich schon eine Steilvorlage dafür ist, diese Produkte mit einer Kaufmöglichkeit direkt im sozialen Netz anzubieten. Wenn aber schon Mitglieder gewillt sind, sich als Fan zu outen und kaufrelevante Informationen zu sammeln oder auszutauschen, wieso dann nicht eine Kaufmöglichkeit für die betroffenen Angebote direkt dort integrieren, wo potenzielle Nutzer darüber reden, ob Marke oder Händler? Schließlich liegt es im Interesse des Anbieters, das Potenzial der „Mund-zu-Mund“-Propaganda maximal für sich zu nutzen und dementsprechend auch die Social-Media-Aktivitäten direkt in den Kaufprozess zu integrieren. In dieser Hinsicht erscheint die Fusion von Social Media und E-Commerce vielversprechend. Im Marketing ist die Nutzung von Web 2.0-Elementen bereits als Standard gesetzt, genauso wie auch das Online-Marketing als Teilfunktion (vgl. Mühlenbeck und Skibicki 2007, S. 87). Eine ähnliche Entwicklung dürfte auch für deren Nutzung im E-Commerce zu erwarten sein. Insofern stellt Social Commerce eine natürliche Weiterentwicklung des Web 2.0 dar. Den Kunden zu helfen, sich zu verbinden, wo sie einkaufen oder ihren Einkauf beginnen, stellt ein effektives Tool dar, um mit der disruptiven Veränderung Schritt zu halten.
Dies war ein Auszug aus dem Buch SoLoMo – Always-on im Handel. Die soziale, lokale und mobile Zukunft des Shopping von Prof. Dr. Gerrit Heinemann, das heute im Springer Gabler Verlag erscheint und ab sofort für 39,99 Euro erhältlich ist.
Über Prof. Dr. Gerrit Heinemann
Prof. Dr. Gerrit Heinemann ist Leiter des eWeb Research Centers der Hochschule Niederrhein mit Schwerpunkt Trade und Retail. Der Forschungsschwerpunkt des eWeb Research Centers liegt in der empirischen Sozialforschung zur Analyse des onlineinduzierten Kaufverhaltens. Dabei geht das Kompetenzzentrum der Frage nach, welche Auswirkung das veränderte Käuferverhalten auf den Handel hat. Im Rahmen seiner praxisorientierten Forschung verbindet das eWeb Research Center Multi-Channel-Expertenwissen mit betriebswirtschaftlichem Know-how. Weitere Informationen unter: http://www.hs-niederrhein.de/forschung/eweb-research-center/
Prof. Dr. Gerrit Heinemann hat zum Start von Location Insider, Deutschlands erstem Fachdienst für Location-based Services und Local Commerce, im November 2013 das Grußwort Anklicken, aufwachen! Warum Deutschland mehr Location Insider braucht geschrieben. Darin erläutert er, welche enormen Potenziale gerade im mobilen Internet für den stationären Handel stecken – denn das mobile Internet ist die Brücke zwischen Online- und Offline.
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