„Wenn man Flügel an ein Auto klebt, ist es noch lange kein Flugzeug“

von Florian Treiß am 23.August 2022 in Interviews, News

Dirk Hoerig (links) und Thomas Gottheil (rechts) von commercetools

Viele herkömmliche Shop-Systeme wurden vor 20 Jahren entwickelt und stoßen nun an ihre Grenzen. Sie heute noch zu nutzen, sorgt für zahlreiche Probleme, wie commercetools-Gründer Dirk Hoerig sagt. Er hat es sich zur Mission gemacht, mit moderner MACH-Technologie Händler und Marken zu befähigen, herausragende Digital Commerce Experiences zu entwickeln. Wie das gelingt und wie dabei die Akquisition von Frontastic hilft, darüber haben wir mit Dirk Hoerig sowie Frontastic-Gründer Thomas Gottheil, jetzt SVP Commerce Experience bei commercetools, gesprochen.

Location Insider: Wie seid Ihr als commercetools und auch Eure Kunden durch die Corona-Zeit gekommen?

Dirk Hoerig: Es war für uns, wie für alle, eine große Umstellung von einem Tag auf den anderen. Wir sind als Unternehmen sehr, sehr gut durchgekommen. Auch die meisten unserer Kunden haben diese Herausforderung sehr gut gemeistert, weil sie schon vorher viel in ihre digitalen Capabilitys investiert hatten und schon gut aufgestellt waren.

Thomas Gottheil: Bei Omnichannel-Kunden hat E-Commerce, bedingt dadurch, dass die Filialen geschlossen wurden, nochmal eine ganz andere Priorität bekommen. Aber das sorgt natürlich auch dafür, dass ganz neue Wachstumsziele für Online aufgestellt wurden, und jetzt ist die Frage für unsere Kunden: wie können wir diese nachhaltig erreichen?

Location Insider: War die Corona-Zeit denn wirklich bei allen Unternehmen der enorme Wachstumstreiber, auch bei denen, die aus dem Online Pure Play kommen?

Dirk Hoerig: Eine Vielzahl der Kunden hat sicherlich ein Wachstum oberhalb von siebzig, achtzig Prozent gehabt. Wir haben viele Kunden, die im Onlinegeschäft in der Corona-Zeit um mehrere hundert Millionen Handelsvolumen gewachsen sind.

Wir sind jetzt nicht mehr in einer Hochphase der Pandemie und deutlich dichter dran an der Normalität danach. Das, was man sieht, ist, dass die Lernkurve im Bereich der Digitalisierung, auch beim Konsumenten, nicht wieder zurück geht. Ich gehe davon aus, dass die Kanalverschiebung von offline zu online auch in den nächsten Jahren nachhaltig größer sein wird. Auf einmal haben auch unsere Großeltern oder Eltern angefangen, online einzukaufen. Und auch für sie besteht relativ wenig Grund, sich jetzt in eine Schlange vor nur halbwegs gefüllte Regale zu stellen. Und dann vielleicht noch in eine lange Reihe zum Bezahlen. Und da sieht man schon, dass viele Leute Online-Services weiterhin nutzen werden. Das ist ein Riesenschub.

Location Insider: Was sind typische Herausforderungen für Unternehmen, die sich für commercetools entscheiden? Was wollen die Firmen erreichen?

Dirk Hoerig: Es sind im Großen und Ganzen zwei Themen, die die Firmen beschäftigen. Der eine Faktor ist die Skalierbarkeit: Nehmen wir H&M, die wir gerade als neuen Kunden gewonnen haben. Die bewegen Milliarden online. Und schon wer von fünfzig Millionen auf hundert Millionen Euro Online-Umsatz wächst, hat Skalierungs­herausforderungen. Einmal intern operativ, sowie natürlich auch in der Infrastruktur, wo die Lösungen, die eventuell aufgesetzt sind, einfach nicht dafür ausgelegt sind. Die Kunden wollen also eine Lösung haben, wo sie verlässlich wissen: sie skaliert auch bei Last, auch unter Lastspitzen. Auch wenn die mal kurzfristig und unerwartet passieren, können wir damit arbeiten.

Der zweite Faktor ist ein gestiegener Bedarf an Flexibilität und Geschwindigkeit, um auf neue Anforderungen reagieren zu können, neue Kampagnen zu launchen, Änderungen im Business Modell vorzunehmen oder neue Ableger vom Geschäft in anderen Ländern auszuprobieren. Und vor allem, und das ist mit Flexibilität gemeint, die Kunden wollen peu à peu mehr Kontrolle über ihre digitale Experience haben, um sich dort zu differenzieren und das Ganze in einer schnelleren Geschwindigkeit fortentwickeln zu können. Und wir wollen diese digitale Transformation und Veränderungsgeschwindigkeit fördern.

Location Insider: Wieso stoßen herkömmliche Shop-Systeme dabei an ihre Grenzen?

Dirk Hoerig: Viele Shop-Systeme wurden früher einfach dazu entwickelt, dass ich einen Webshop launchen kann. Als diese Systeme vor 15 bis 20 Jahren entwickelt wurden, war man mit 100 Millionen Euro Umsatz schon einer der größten Onlinehändler in Europa. Da benötigte man vielleicht noch jemanden, der sich mit SEO und SEA auskennt, und vor allem Produkte, die man verschicken kann. Das waren die damaligen Probleme. Aber nicht, dass man morgen doppelt so viel Umsatz macht, neue Kanäle hinzukommen und meine Kunden noch zig andere Webshops kennen, die eventuell alle eine bessere Experience bieten.

Ältere Systeme kommen schlecht damit zurecht, weil sich die Herausforderungen exponentiell und nicht linear verändern. Da ist mein Beispiel immer: die Leute wollen heute gerne fliegen. Früher hat man Autos gebaut. Wenn da jetzt aber meine Antwort als Systemhersteller ist: ich klebe da ein paar Flügel an das Auto dran, dann ist es aber trotzdem noch kein Flugzeug. Vielleicht kann ich mal hundert Meter damit fliegen. Aber am Ende erfüllt es nicht das Bedürfnis, wonach eigentlich gesucht wird.

Location Insider: Ihr habt Frontastic übernommen. Wie passt Ihr als Backend-Spezialist mit einem Frontend-Anbieter zusammen?

Dirk Hoerig: Wir hatten schon immer sehr viele Schnittmengen und viele gemeinsame Kunden. Frontastic hat vor allem diejenigen Kunden unterstützt, die einen starken Marketing-Fokus auf den Onlinekanal haben, zugleich in der IT aber ein bisschen kleiner aufgestellt sind. Diese Kunden wollen und müssen dennoch über Flexibilität und Skalierbarkeit verfügen. Bei diesen Kunden wurde zunächst weniger an den Backend­Prozessen gebaut, aber immer mit der Option, hinterher noch das Ganze zu erweitern. Und da haben wir viele gemeinsame Kunden gesehen, die gern alles aus einer Hand hätten.

Thomas Gottheil: Das heißt für uns als Frontastic oder jetzt unter dem neuen Namen commercetools Frontend: es muss ein Software-Produkt geben, das sich komplett auf das Kundenerlebnis konzentriert, auf das Frontend. Und da stellen wir alle erforderlichen Basics bereit und bieten sie als Produkt an. Zugleich ermöglichen wir es den Kunden, sich im Frontend zu differenzieren.

Wir bringen E-Commerce-Manager, Product Owner, SEO-Spezialisten et cetera mit den Developern auf der anderen Seite zusammen. Und diese finden bei uns ein Produkt, wo sie sehr effizient genau das bauen können, was ihnen die Differenzierung und damit auch das Wachstum bringt. Mit commercetools Frontend kümmern wir uns um die ganze Komplexität im Frontend. Das ist nicht mal eben so gemacht. Sondern, es geht dann darum, dass die Seite geringe Ladezeiten hat, gut von Google erfasst und gut in den Rankings platziert wird. Und da wir komplett für Headless aufgestellt sind, ist es ein idealer Fit für commercetools Composable Commerce.

Location Insider: Kann man commercetools Frontend komplett ohne Entwickler nutzen?

Thomas Gottheil: Es ist Bestandteil unserer Mission, das Business zu befähigen, möglichst viel selbst ohne Entwickler zu realisieren. Zugleich glauben wir aber auch, dass Unternehmen eigene Developer-Power brauchen. Aber wir reduzieren die Anzahl, da braucht man dann nicht riesige Teams, sondern eher kleine oder kann es mit einer Digitalagentur zusammen umsetzen. Und die Entwickler sind dann für die Differenzierung und die Innovation zuständig.

Aus meiner Sicht gehört der Frontend-Entwickler auch gar nicht ins IT-, sondern ins Marketing-Team. Denn man möchte keine Projekte planen, sondern Aktionen schnell umsetzen. Und dafür bieten wir das geeignete Produkt an. Weil dann Developer und Marketingexperten super eng und flexibel im Team zusammenarbeiten können.

Location Insider: Vor kurzem habt Ihr commercetools for Growth angekündigt. Was ist hier der Unterschied zu einer „selbstgebauten“ Kombination aus commercetools und Frontastic bzw. commercetools Frontend?

Thomas Gottheil: Bei commercetools for Growth geht es darum, auch kleineren Unternehmen, die noch keine kompletten IT-Teams aufbauen können, mehr Flexibilität zu geben und ihr Wachstum zu fördern. Es ist eine Lösung, die aus unterschiedlichsten Produkten von uns kombiniert ist. Das ist zum einen das E-Commerce-Produkt von commercetools, zum anderen das Frontend, sowie eine Search Discovery Solution sowie eine Anzahl von industriespezifischen Best Practices, auf die man aufsetzen kann. Plus weiteren Integrationen, zu Payment, zu unterschiedlichen weiteren Services, die von den Kunden nicht selbst gebaut werden müssen, sondern schon dabei sind. So ermöglichen wir eine schnellere Time to Market und sorgen dafür, dass die Firmen dank Composable Commerce zukunftsfähig sind und bleiben.

Location Insider: Das klingt ganz danach, als ob sich commercetools in Richtung Portfolio Company weiterentwickeln will.

Dirk Hoerig: Ja, genau so ist es. Unsere Vision ist es, Digital Commerce Experiences zu ermöglichen. Mit einem Best-of-Breed-Ansatz, bei dem Produkte gemäß MACH-Prinzip eigenständig und Cloud-nativ funktionieren. Und wir arbeiten gerade an weiteren Produkten. Das nächste, was nach dem commercetools Frontend und commercetools for Growth kommen wird, wird commercetools Checkout anywhere in der zweiten Jahreshälfte sein.

Location Insider: In diesem Whitepaper geht’s um Erfolgsrezepte für Digital Commerce. Was ratet Ihr Unternehmen, die darin erfolgreich sein möchten?

Thomas Gottheil: Ich habe Frontastic vor vier Jahren von null auf gestartet. Und womit ich in den vier Jahren sehr gute Erfahrungen gehabt habe, ist: auf der einen Seite eine klare und große Vision zu haben. Zu wissen: wo willst du langfristig hin? Aber dann wirklich in kleinen Schritten zu diesem Ziel kommen. Und das war für mich auch nochmal ein Lern-Effekt: wirklich Fehler machen dürfen, daraus zu lernen und die Erkenntnis mit dem Team zu teilen, so, dass jeder mitlernen kann und muss. Und wenn man dann auf der anderen Seite smarte Leute mit ins Team holt, dann ist dir der Erfolg schon zu 90 Prozent sicher.

Dirk Hoerig: Die Technologie, die wir anbieten, ist ja kein Selbstzweck. Wir haben sie auch nicht entwickelt, damit Entwickler nur ein cooleres Framework, eine coolere Technologie haben. Die Frage muss im Digital Commerce immer sein: Wo möchte ich hin und warum mache ich das? Dies muss im Einklang mit der Kundenperspektive auf mein Unternehmen sein. Die daraus entwickelte ambitionierte Vision muss sowohl intern als auch extern intensiv kommuniziert werden, um die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, aber auch die Kunden abzuholen. Das sehen wir bei vielen erfolgreichen Modellen. Bei diesen Modellen ist den Kunden wie den Mitarbeitern klar, warum und wie die Unternehmen etwas umsetzen und für was sie stehen.

Location Insider: Vielen Dank für das Gespräch!

Kostenloses Whitepaper

Dieser Beitrag erschien zuerst im Whitepaper „Erfolgsrezepte für Digital Commerce“. Darin liefern wir vom Retail-Fachdienst Location Insider gemeinsam mit commercetools, dem Best-in-Class-Backend für Händler und Marken, Ihnen Inspiration, wie Sie im ­Digital Commerce erfolgreich sein und schnell wachsen können.

Das Whitepaper enthält unter anderem Best Practices von Cazoo, Emma, John Lewis und Lakrids by Bülow. Außerdem erwartet Sie u. a. eine Umfrage mit Statements von acht Experten, die ihre persönlichen Erfolgsrezepte im Digital Commerce verraten. Zudem erläutern wir, welche Themen im Digital Commerce momentan besonders vielversprechend sind. Und wir geben einen Ausblick, was Händler und Marken im Metaverse erwartet.

Die Themen des Whitepapers im Überblick:

  • What’s hot in Digital Commerce?
  • Expertenumfrage: Was ist Ihr Erfolgsrezept im Digital Commerce?
  • Erfolgsstories von John Lewis, Emma – The Sleep Company, Lakrids by Bülow, Cazoo
  • Interview mit Dirk Hoerig (CEO commercetools) und Thomas Gottheil (SVP Commerce Experience commercetools)
  • Wie Sie mit commercetools den nächsten Schritt im Digital Commerce gehen
  • Virtuelle Zukunft des Handels – was uns im Metaverse erwartet

Gratis-Download des Whitepapers:

Unser Whitepaper „Erfolgsrezepte für Digital Commerce“ können Sie hier gratis anfordern!


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