Emotionales Produktdesign: Was Marken und Online-Händler von TikTok & Co. lernen können
von modulr.design am 20.Februar 2023 in Partnerbeitrag, Trends & AnalysenVon Thomas Latus (Gründer und CEO der modulr.design GmbH)
Eine fesselnde User Experience (UX) ist nicht nur eine Frage der punktgenauen Adressierung menschlicher Bedürfnisse. Vor allem persönliche und emotionale Ansprachen beeinflussen heute unser Verhalten, insbesondere bei digitalen Produkten. Welche Gewohnheiten dadurch beeinflusst werden sollen, hängt vom jeweiligen Geschäftsmodell ab. Die erfolgreiche Social-Media-App TikTok beispielsweise motiviert zu möglichst langer und engagierter Nutzung, um durch personalisierte Werbung, Creator-Coins und integrierte E-Commerce-Angebote Einnahmen (durch Gebühren) zu erzielen. Für Nutzer:innen bedeutet dies ein schmaler Grat, sich aufgrund des hohen persönlichen Mehrwertes aus freien Stücken auf eine Beziehung zu TikTok einzulassen, oder sich durch das Benutzen menschlicher Bedürfnisse und Schwächen fesseln zu lassen. Doch wie genau funktioniert das emotionale Produktdesign TikToks?
Bonding versus Bondage: Wie sich Design auf Emotionen auswirkt
Wie in einer alten Freundschaft oder zwischen Arbeitskolleg:innen zielt emotionales Produktdesign auf zwischenmenschliche Beziehung zwischen Produkt und Nutzer:in ab, die weit über die sachliche bzw. funktionale Ebene hinausgeht und damit eine tiefe Verbindung und loyale Verankerung aufbaut.
Die Beziehung zwischen TikTok und seinen App-Nutzer:innen lässt sich mit einer freundschaftlichen Beziehung vergleichen. Wie zu Beginn einer Bekanntschaft, lernen die Nutzer:innen die App kennen und auch TikTok lernt durch das Verhalten in der App immer mehr über persönliche Einstellungen und Interessen. Das Beziehungsverhältnis ist gekennzeichnet von einem gemeinsamen (Kennen-)Lernen, Freude und Abenteuerlust. Gestärkt wird die Beziehung durch authentische Inhalte der Video-Creator, die Einblicke in ihr Privatleben geben und dadurch nahbarer werden.
Neben der rein oberflächlichen Wahrnehmung des User Interfaceses sorgen die Adressierung von Bedürfnissen und Vorlieben der Nutzer:innen für eine Verhaltenssteuerung durch (personalisierte) Algorithmen und Feedback-Systeme.
Der erste Eindruck zählt
Ohne Einstiegshürden löst TikTok mit überraschend immersiven, bildschirmfüllenden und Sound-untermalten Inhalten bereits beim Onboarding positive Emotionen aus und vermittelt Nutzer:innen das Gefühl, Teil einer Gemeinschaft zu sein und zugleich aktiv mitgestalten zu können. Mit zunehmender Nutzung durch Liken, Teilen und Veröffentlichen von Inhalten werden persönliche Interessen angelernt, wodurch immer mehr „Gemeinsamkeiten“ zwischen der App und den Nutzer:innen entstehen. Diese haben innerhalb kürzester Zeit den Wert dieser Beziehung verstanden („Aha-Moment“ bzw. „Time to Value“) und stellen sich innerlich auf viele weitere Nutzungen/“Dates“ ein.
Zugehörigkeit, Wertschätzung und kreative Freiheit
Im Bereich B2C setzt TikTok weniger auf grundlegende Bedürfnisse wie Sicherheit, Stabilität und Ordnung. (Für B2B sieht das aufgrund der verlässlich funktionierenden Werbeanzeigen-Schaltung anders aus.)
Stattdessen werden vor allem soziale Bedürfnisse geweckt – beispielsweise durch den Austausch untereinander anhand von Likes, Kommentaren und Shares. Somit entstehen loyale Followerschaften bzw. Verbindungen mit aktiven Creators („TikToker“) und passiven Beobachtern. Daran geknüpft ist das Bedürfnis nach Anerkennung, das durch soziale Befürwortung, wie Likes oder Spenden an Creators mit sogenannten „Coins“ zum Ausdruck gebracht wird.
Nahbare Inhalte wirken besonders authentisch und können leicht in andere Plattformen wie Instagram oder persönliche Nachrichten exportiert werden, was sowohl die kontinuierliche Sichtbarkeit von TikTok steigert, als auch bei Nutzer:innen das Bedürfnis des sozialen Einflusses bedient. Weiterempfohlene Lern-Erfahrungen, Krisenmeldungen oder Lacher zahlen direkt auf die Marke TikTok ein.
Darüberhinaus bietet die Plattform viele Möglichkeiten Kreativität auszudrücken, was ein starkes emotionales Engagement fördert. Damit wird das menschliche Bedürfnis, das eigene Potential zu entfalten und sich selbst zu verwirklichen, bedient. Durch die Erstellung und Bearbeitung von Videos, gespickt mit Musikunterlegung sowie visuellen Effekten und Filtern können Kreationen einzigartig gestaltet werden. Trends und Herausforderungen bewegen Nutzer:innen kontinuierlich dazu, neue Ideen für Choreografien, Kostüme oder Film-Nachstellungen zu entwickeln. Und das sogar wahlweise im Duett mit anderen oder live in Form von Improvisation.
Vor allem persönliche und emotionale Ansprachen beeinflussen heute unser Verhalten, insbesondere bei digitalen Produkten.
State of Flow
Während Nutzer:innen sich kurz und prägnant über das dramatische Weltgeschehen informieren, anhand spannender Kurz-Tutorials fortbilden und gemeinsam mit anderen TikTokern auf der Plattform kreativ ausdrücken, können Stunden vergehen, ohne dass sie merken, wie die Zeit verfliegt.
TikTok hat durch ein gut kuratiertes Programm einen Unterhaltungs-Mechanismus etabliert, der dafür sorgt, dass sich langwieriges Swipen und Tappen nicht nach Prokrastination anfühlen, sondern neben den Herausforderungen des täglichen Lebens für Entspannung sorgt.
Um diesen „Flow“ aufrecht zu erhalten, setzt die Plattform alles daran, die Nutzung möglichst barriere- und entscheidungsfrei zu gestalten, damit Inhalte ungehindert konsumiert werden können. Hauptfunktionen wie Liken sind unten rechts mit dem Daumen einhändig erreichbar, um den Interaktionsaufwand in Grenzen zu halten bzw. auf wesentliche Funktionen zu konzentrieren.
Hinzu kommt, dass jeder Nutzungszyklus einem klaren Verhaltensmuster folgt, auf das wir Menschen besonders anfällig reagieren. Ein Grund, warum Casino-Apps oder Computer-Spiele wie FIFA finanziell so erfolgreich sind. Dieses sogenannte „Hook-Model“ von Nir Eyal ist darauf ausgelegt, wiederkehrende Gewohnheiten durch ein variables Belohnungssystem zu fördern und eine starke emotionale Bindung aufzubauen. Der Zyklus gliedert sich in vier Phasen:
1. Trigger: Externe Trigger wie App Benachrichtigungen (zum Beispiel die Info, dass der Lieblings-Creator ein neues Video geteilt hat) locken Nutzer:innen in die App. Auch ohne diese Benachrichtigungen können Langeweile, oder das Bedürfnis etwas zu teilen (sog. interne Trigger) dazu führen, die App zu öffnen. Alternativ können Nicht-Nutzer:innen durch geteilte Inhalte in anderen sozialen Netzwerken „getriggert“ werden.
2. Action: TikTok macht es durch eine niedrige Einstiegshürde und ein simples User Interface den Nutzer:innen einfach durch die Videos zu scrollen, eigene Inhalte zu teilen und auf fremde Inhalte zu reagieren.
3. Variable Reward: TikTok nutzt ein System von Likes, Kommentaren und Shares, um die soziale Interaktion zwischen Nutzer:innen zu fördern und ihnen soziale Anerkennung zu geben – und sie dadurch umgehend zu belohnen („Instant Gratification“). Durch regelmäßige und aktive Nutzung werden stetig passendere Inhalte ausgespielt, die überraschend belohnend wirken.
4. Investment: TikTok fordert Nutzer:innen auf, noch mehr Zeit auf der Plattform zu verbringen, indem es sie motiviert, eigene Inhalte zu erstellen, Follower zu sammeln und an Challenges teilzunehmen. Entlang des Investments werden Nutzer:innen wiederum „getriggert“ und der Kreislauf setzt sich fort.
Das „Hook-Model“ ist eine Methode, die ebenfalls bei anderen großen Netzwerken zu immensem Geschäftserfolg geführt, aber langfristig Nutzer:innen vergrault hat. Durch öffentlichen Diskurs sowie Dokumentationen, wie „The Social Dilemma“ wurde zunehmend bekannt, welche langfristig schädlichen Einflüsse Verhaltens-Manipulationen durch soziale Netzwerke haben können. Insofern ist der Umgang mit sogenannten „Dark UX Patterns“, die stark im Sinne des unternehmerischen Erfolgs ausgelegt sind, mit Vorsicht zu genießen. Im besten Falle dient diese Methode dem Wohle des Menschen, um durch Formierung von positiven Gewohnheiten wiederum positiven Einfluss auf die Psyche des Menschen zu nehmen sowie letztlich die langfristige Kunden- bzw. Markenbindung zu festigen.
Der neue One-Stop-Shop
Damit Unternehmen sich nicht mit Conversion-Optimierung ihrer Online-Shops herumschlagen müssen, bietet TikTok (wie Instagram) direkte Transaktionen inklusive der Verwendung einer hinterlegten Zahlungsmethode. Damit können durch klassisches Influencer Marketing aber auch In-Feed-Anzeigen, Brand Takeovers oder Augmented Reality-Anzeigen zum unmittelbaren Kauf angeregt werden.
Ein ewiger Kreislauf
Das TikTok-Modell zeigt, wie emotionales Produktdesign und dadurch die Beeinflussung menschlicher Bedürfnisse das Verhalten und die Bindung von Nutzer:innen an eine Plattform steigern kann. Neben dem eigentlichen Inhalt nutzt sie verhaltensfördernde Methoden und Mechanismen, die sowohl für oder gegen das Wohl des Menschen einsetzbar sind. Personalisierung, kurze und unterhaltsame Inhalte sowie eine starke soziale Gemeinschaft prägen das Erlebnis. Marken und Online-Händler bzw. E-Commerce-Apps können hier klar von TikTok lernen. Personalisierte Empfehlungen, simple Interaktionen, reduzierte Entscheidungsweichen und starke soziale Gemeinschaften können die Markenbindung erhöhen und dadurch eine loyale Käuferschaft sichern.
Bei Fragen und Anregungen kontaktieren Sie den Autor Thomas Latus gern via: latus@modulr.design
Über den Autor:
Thomas Latus (36) ist Gründer und CEO der modulr.design GmbH, kurz Modulr, einer Agentur für digitales Produktdesign mit Sitz in Hamburg. Schwerpunkt des Unternehmens ist die nachhaltige Kundenbindung durch emotionale Markenerlebnisse.
Nach seinem Studium an der Hamburger Technischen Kunstschule machte sich Latus 2010 zunächst als Product & Brand Designer selbstständig. In dieser Funktion half der gebürtige Hamburger Startups, wie Mytaxi (heute FreeNow), erfolgreich beim Markteintritt. Gemeinsam mit einem modularen Netzwerk aus freien UX-Expert:innen betreut er seit 2012 den langjährigen Kunden Finanz Informatik, IT-Dienstleister der Sparkassen-Finanzgruppe, und unterstützte in den kommenden Jahren weitere Unternehmen bei der Neu-Konzeptionierung und Optimierung ihrer digitalen Produkte-Erlebnisse.
2020 gründete Latus Modulr. Am Standort Hamburg-Altona arbeiten heute Expert:innen aus den Bereichen UX Research, Strategie und Design. Im Innovations Hub „Rainhaus“ entwickeln er und sein Team zudem eigene Produktideen sowie Geschäftsmodelle und laden quartalsweise zur Veranstaltungsreihe „Impulses“, bei der Unternehmer:innen und Produktverantwortliche mehr über Unternehmer:innentum, Zukunftstechnologien und strategisches Design erfahren.
Latus ist freier Dozent und Juror an der Hamburger Technischen Kunstschule und setzt sich ehrenamtlich für den systematischen Wandel durch die Sustainable Development Goals der United Nations ein.
Über das Unternehmen:
Die modulr.design GmbH – kurz Modulr – ist eine Agentur für digitales Produktdesign mit dem Fokus auf nachhaltige Kundenbindung durch emotionale Markenerlebnisse. Ziel ist es, den jeweiligen Markenkern in digitalen Produkten erlebbar zu machen und den Menschen bei der digitalen Transformation nicht aus den Augen zu verlieren.
Das 2020 von Thomas Latus in Hamburg gegründete Unternehmen unterstützt Start-ups und Scale-Ups bei der Neukonzeptionierung und Optimierung ihrer digitalen Kundenerlebnisse. Um Menschen und Marken durch positive Erfahrungen nachhaltig zu verbinden, werden zunächst in strukturierten/geführten Innovationsprozessen realitätsnahe Prototypen entwickelt. Diese werden dann mit echten Zielkunden verprobt und für die technische Entwicklung als systematische Blaupause aufbereitet. Im eigenen Innovations-Hub “Rainhaus” kollaborieren hierfür zehn UX-ExpertInnen mit „Rising Stars”, wie Topi, Aitme, Dogado, Aroundhome und Leasingmarkt. Dort entwickelt das Modulr-Team zudem eigene Produktideen sowie Geschäftsmodelle und lädt quartalsweise zur Veranstaltungsreihe “Impulses”, bei der UnternehmerInnen und Produktverantwortliche mehr über UnternehmerInnentum, Zukunftstechnologien und strategisches Design erfahren. Zu den Kunden von Modulr gehört u. a. Finanz Informatik, IT-Dienstleister der Sparkassen-Finanzgruppe. www.modulr.design
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