„Einmalige Chance, den historischen Charakter der Innenstädte neu zu definieren“: Wolf-Jochen Schulte-Hillen im Interview.

von Kay Ulrike Treiß am 14.Dezember 2021 in Interviews, News

Wer würde ein treffenderes Jahresfazit ziehen als der Grand Seigneur des deutschen Handels? Wolf-Jochen Schulte-Hillen von SH Selection hat für Location Insider Bilanz gezogen zum Corona-geprägten Jahr 2021. „Der Trend zu Abstand, Hygiene, Cashless und Regionalität hat die Entwicklung von Unmanned Stores und Vending Regiomaten im DTC Business befeuert“, sagt er. Schulte-Hillen verrät seine Vorbilder im Handel, die – trotz Pandemie – mit kreativen Ideen erfolgreich sind.

Location Insider: Welche schönen oder erfolgreichen Momente hatte das Jahr 2021 aus Händlerperspektive und warum?

Wolf-Jochen Schulte-Hillen: Wir hatten 2021 ein mehr als turbulentes Jahr mit noch unklarem Ausgang für den Einzelhandel. Corona-Mutationen halten die Welt in Atem und Schockstarre und die Politik macht es mit 2G oder G+ Auflagen dem Handel weiter schwer. Den Einzelhändlern wird weiterhin viel abverlangt. Von der Politik muss dem stationären Handel eine verlässliche Perspektive gegeben werden. Das vermisse ich!

Aber es gibt auch Gewinner im Handel, und zwar diejenigen, die bereits erfolgreich auf der Klaviatur Multichannel spielen. Und auch solche Unternehmen, die es geschafft haben, durch einzigartige Aktivitäten wie dem kreativen Einsatz der sozialen Netzwerke die Bindung zu Ihren Kunden zu vertiefen. Insbesondere erwähne ich gerne auch kleinere Händler, die das Thema Mitarbeiterführung und Customer Service in ihren Genen verankert haben. Sie kamen bisher recht gut aus der Krise. Gewinner sind natürlich auch die systemrelevanten Handelsformate.

Location Insider: Gab es in 2021 auch Momente/Ereignisse, die Ihr Unternehmen belastet haben?

Wolf-Jochen Schulte-Hillen: Als Berater, Gestalter und Innovator war ich lediglich von der eingeschränkten Möglichkeit der Fernreisen und der damit verbundenen Entdeckung von neuen Inspirationen für Handel und Branddevelopement (USA Ost und Westcoast, neu auch Texas, dann Japan, die Emirate, China) betroffen.

Location Insider: Mit welchen Erwartungen gehen Sie ins Weihnachtsgeschäft?

Wolf-Jochen Schulte-Hillen: Ich hoffe, dass der stationäre Handel einiges an Umsatz aufholen kann und der Verbraucher trotz der vierten Corona-Welle im Handel vor Ort einkauft!

Location Insider: Haben Sie vielleicht sogar überlegt, sich beruflich in eine andere Richtung zu orientieren?

Wolf-Jochen Schulte-Hillen: Ein wahrer Händler hat den Handel im Blut.

Location Insider: Verraten Sie uns Ihr Vorbild im Handel, die/der Corona mit neuen Ideen und Kreativität erfolgreich getrotzt hat?

Wolf-Jochen Schulte-Hillen: Es gibt viele tolle Beispiele. Neben dem Ideenreichtum konnte durch die Geschäfts- oder Filialaufgabe vieler Händler eine Welle von innovativen neuen Store-Konzepten (Retail as a Service, Pop-Up-Stores und autonome Stores) Einzug in die Handelsimmobilien halten, die vor allem für Startups bis dahin unerschwinglich waren. Der Trend zu Abstand, Hygiene, Cashless und Regionalität hat die Entwicklung von Unmanned Stores und Vending Regiomaten im DTC Business befeuert. Allein die Firma Stüwer mit den Regiomaten stellt in Deutschland gerade den 5.000 DTC Vending Automaten auf. Im Freiburger Hauptbahnhof betreiben seit drei Monaten ca. 20 regionale Händler auf ca. 250 qm einen autonomen Marktplatz 24/7/365 mit Food- als auch Non-Food-Artikeln, der von 17 bereits auf 25 Händler mit Vending-Maschinen von Stüwer erweitert wurde.

_blaenk ist ein Paradebeispiel für Retail as a Service

So mancher Onlinehändler konnte in den von Corona und Unsicherheiten geprägten Monaten nun auch stationäre Geschäftsmodelle zu vertretbaren Mietkonditionen testen. Beispiele wie _blaenk oder das PopUp-Konzept der Aachener Grund mit dem Hystreet Studio, bei denen bisher nicht stationär aktive Händler im ein bis zwei Monatsrhythmus ihre stationäre Fitness testen können, wären ohne Corona nie entstanden. Das _blaenk-Konzept wurde bereits mehrfach ausgezeichnet.

Hystreet Studio liefert einen voll eingerichteten Store mit kompletter neuester digitaler Ausstattung für die Plattformökonomie. Hier kann der Händler Multichannel erproben.

Gin de Cologne ist der erste Mieter des Hystreet Studios in Köln

Daraus ergibt sich ein neues Bild der Stadt, was Kundenbesuche reizvoll erscheinen lässt, und das so oft zitierte Erlebnis sichtbar macht.

Location Insider: Welchen Rat oder welche Lehre bzw. Erkenntnis nehmen Sie mit ins neue Jahr?

Wolf-Jochen Schulte-Hillen: Die strategische Ausrichtung ist in diesen Zeiten quasi immer neu zu überprüfen und möglicherweise auch neu zu bestimmen. Das hat viel mit der Identität zu tun.

Ich bin sicher, dass sich vor allem auch die Immobilieneigentümer in nicht mehr tragfähigen Einzelhandelslagen zukünftig mit alternativen Nutzungen beschäftigen müssen. Somit kann das Innenstadtbild spannender und zukunftssicher gestaltet werden, wenn der Next Retail – neue und bewährte Retail-Konzepte in Einklang mit Kunst, Kultur und Gastronomie – kuratiert wird. Damit bietet sich auch die einmalige Chance, den USP und den historischen Charakter der Innenstädte neu zu definieren, welcher an vielen Stellen bereits durch Beliebigkeit an Glanz verloren hat oder an vielen Stellen gar nicht mehr vorhanden ist.

Location Insider: Wie sieht der Handel in 2022 aus?

Wolf-Jochen Schulte-Hillen: Ich sehe in den Jahren 2022 und 2023 Jahre der Transformation, in denen es hoffentlich die gewünschten Ergebnisse zu verzeichnen gibt. Die Aufgabe muss sein, sich auf die Innenstadt als Kommunikationszentrum und als Marktplatz der Bürger zu besinnen. Damit diese sich dort wohlfühlen und treffen, muss ein bunter Strauß an Handels-, Gastro-, Kultur-, Kunst- und Serviceformaten neu kuratiert und auf die Stadt zugeschnitten sein.

Außerdem gilt es die Erreichbarkeit einer autofreien Zone sicherzustellen, da dies die Aufenthaltsqualität optimiert und eine Wohlfühlatmosphäre schafft. Die gekauften Waren werden geliefert oder an zentralen Hubs zur Abholung gesammelt. Die beliebigen Konzepte an den ausgefranzten Rändern müssen weichen und anderen Nutzungen Platz machen. Es reichen fußläufig erreichbare Nahversorgungszentren, die die wichtigsten Produkte des täglichen Bedarfes für die Einwohner bevorraten. Autonome oder automatengetriebene 24/7/365 Stores ergänzen die Versorgungsstruktur vor allem mit regionalen, frischen Produkten, wie es die Regiomaten seit Jahren erfolgreich praktizieren. Autonome Stores wie die Beispiele Tegut, Shopbox und Marktplätze 24/7 bereits jetzt schon zeigen, werden sich stark entwickeln.

Automatengetriebener Kiosk mit Vending-Maschinen von Stüwer

Es gibt keine „ideale Stadt“ vom Reißbrett. Die Städtelandschaft in Deutschland kann sich jedoch mit den unterschiedlichen Ausprägungen zukunftskräftig aufstellen. Vor allem auch die rasante Entwicklung der Content Creator Community ist für mich die große Chance, mit frischen neuen Konzepten die optische und inhaltliche kreative Einzelwelt des Next Retail zu beleben. Alle Onlinehändler brauchen über kurz oder lang einen Touchpoint für ihre Community.

Lesen Sie hier auch weitere Jahresrückblicke u.a. von dm-Chef Christoph Werner.


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