Zeit für Veränderung: Vier Gedanken zum Handel 2021.
von Gastautor am 30.Januar 2021 in Highlight, News, Trends & AnalysenVon Wolfgang Kirsch
2020 war für den Handel ein besonderes Jahr. Es gab einige Händler, die unverschuldet in Not geraten sind, und andere, die genauso unverschuldet von Erfolg zu Erfolg eilten. Manche rackerten sich ab und ernteten die Früchte – andere waren einfach das komplette Jahr durch die Gelackmeierten. Ich fürchte 2021 wird nicht weniger besonders – wie genau, lässt sich schwierig prognostizieren. Auf einige Entwicklungen lohnt es sich allerdings bereits jetzt ein Auge zu werfen – meine vier Gedanken für 2021.
Digitalisierungsschub: Zehn Jahre in zehn Monaten?
Als ich im Mai 2020 nach den Folgen von Corona gefragt wurde, antwortete ich, dass Corona eine Turbo-Digitalisierung in Gang setzen wird: Die Entwicklung, die sich normalerweise in fünf Jahren vollziehe, passiere nun in fünf Monaten. Mittlerweile haben wir zehn Monate Corona hinter uns – und das Ende ist offen. Die Frage: Wird der Digitalisierungsschub nun auch zehn normalen Jahren entsprechen? Meine Antwort: Auf jeden Fall werden es mehr als fünf. Man sieht es an den Vorreitern: Wer sich bereits mit Themen auseinandergesetzt hat, die vielleicht unter normalen Umständen erst gegen Ende des Jahrzehnts unumgänglich geworden wären, der profitiert nun überproportional. Wichtig ist dabei vor allem echte Kundenorientierung. Es gibt zwar Leute, die behaupten, die sei schon immer wichtig. Aber mal ehrlich – wenn es Geld kostet oder die vorgegebenen Prozesse es schwierig machen, wird sich zu oft gegen die Kunden erschienen. Des Weiteren geht es um Konzepte mit weniger, besser genutzter oder geographisch besser verteilter Fläche sowie Personalisierung in Onlineshop und Laden, Empfehlungsalgorithmen usw. Für Hersteller ist nun die Zeit, endlich das Direct2Consumer-Geschäft zu aktivieren – selbst wenn im Moment gerade Ware knapp ist. Denn mit so einem Geschäft hat man ein Standbein, das unabhängig ist vom Handel. Zudem hat man dann die Möglichkeit, auch selbst herauszufinden, was der Kunde oder die Kundin will. Wer das noch nicht auf dem Schirm hat, sollte sich sputen.
Die Großen wiederholen immer noch dieselben Fehler
Die Überschrift meines ersten LinkedIn-Beitrags, etwa vor einem Jahr, lautete „Nicht immer dieselben Fehler wiederholen“. Dann kam 2020 und was soll ich sagen? Die Schwarz-Gruppe hatte Ende 2017 die eigenen Online-Aktivitäten von Kaufland eingestellt, um 2020 real.de zu übernehmen. An wen erinnert mich das gleich? Egal! Denn es scheint für Kaufland ein guter, wenn auch teurer Schritt zu sein.
Trauriger stimmt mich ein anderer Fehler, der aktuell fleißig wiederholt wird: Einige Profiteure der Corona-Situation scheinen regelrecht erfolgstrunken davon, dass die Kundinnen und Kunden statt in einen Urlaub, in Fernseher, Renovierung und Fahrräder investieren. Sie denken nicht darüber nach, dass diese Umsätze in den kommenden Jahren ausbleiben werden – schließlich kauft man nicht jedes Jahr eine neue Küche. Und dass der Boom an den strukturellen Problemen ihrer Unternehmen gar nichts ändert. Diese Profiteure von heute ändern nichts an zu viel Fläche, zu schlechten Onlineshops und mangelnder Kundenorientierung. Und sie werden nach der Corona-Konjunktur zwar mit fettem Polster, aber doch ziemlich unsanft in der Realität ankommen. Denn wenn man länger fällt mit mehr Gewicht, wird der Aufprall meistens ziemlich hart.
Wie man es besser machen kann, zeigt zum Beispiel Ikea, die gerade auf der Überholspur und nach oben unterwegs sind. Sie haben im Grunde aus dem Nichts ein vernünftiges Click&Collect-Kundenerlebnis aufgebaut. Ich finde es immer noch „interessant“, dass das als Service in Rechnung gestellt wird und bin sicher, dass die Verantwortlichen irgendwann einsehen werden, dass diese Vorgehensweise selbst für eine Selber-Schlepper-und-Schrauber-Marke nicht zeitgemäß ist. Aaaaber: Insgesamt investiert das Unternehmen gerade so viel in seine Zukunft, dass der Wandel gelingen kann und wird. Das sieht nicht bei allen Möbelhändlern so gut aus. Bei den Baumärkten ergibt sich ein ähnlich gemischtes Bild – bei einigen, wie z.B. Hornbach, hat sich in den vergangenen sechs Monaten extrem viel getan. Insgesamt aber gilt weiterhin der Slogan: Es gibt immer was zu tun!
Die Kleinen profitieren von tatsächlicher Kundennähe
Freuen tue ich mich aktuell darüber, wie zahlreiche kleine Händler vorgehen. Sie haben – wie sich nun zeigt – die tatsächliche Nähe zu den Kundinnen und Kunden und können diese nun ausspielen. So habe ich in den vergangenen Wochen beispielsweise E-Mails von meinem stationären Weinhändler bekommen mit seinen aktuellen Angeboten und dem Hinweis, dass er mich gern damit beliefern würde – habe ich dann auch direkt genutzt. Auch diese Händler brauchen zukünftig bessere digitale Lösungen, weil Kundinnen und Kunden sich an „das neue Normal“ gewöhnen – aber sie haben gleichzeitig die beste Voraussetzung, um damit erfolgreich zu sein. Sie haben zudem auch offensichtlich ihre Hausaufgaben wenigstens insofern gemacht, als dass sie die Kontaktdaten ihrer Kunden haben. Leider allerdings sind lange nicht alle so vorausschauend gewesen.
Eine E-Mail der besonderen Art erhielt ich kürzlich von einem großen Warenhaus-Konzern. Ich solle per Mail (!) bestellen. Eine Lieferung innerhalb Münchens sei umsonst – außerhalb koste sie 10,- Euro. Der Betreff lautete „Personal Shopping Service“ – „Notnagel“ wäre wohl treffender gewesen. Ich denke, an den Herrschaften ist komplett vorbeigegangen, dass es sowas wie reine Online-Händler gibt. Mit Bestellung auf einer Webseite oder in einer App statt per Mail. Und mit kostenloser Lieferung außerhalb irgendeines Umkreises.
Die Beispiele zeigen: Was für einen kleinen Händler ein guter Schritt ist, ist für einen Großen an Peinlichkeit kaum zu übertreffen. Denn beide müssen an unterschiedlicher Stelle nachholen: Die Kleinen müssen endlich mit der Digitalisierung (und allem was dazugehört) beginnen. Die Großen dürfen bei aller Digitalisierung die persönliche Nähe nicht vergessen. Denn stationäre Händler jeder Größenordnung werden in Zukunft beides brauchen, um bestehen zu können.
Je länger die Krise, desto größer die Chance auf nachhaltige Veränderung
Bei aller Frotzelei und mit vollem Bewusstsein für die vielen traurigen Schicksale, die Corona erzeugt: Ich glaube, dass die Krise für den Handel auch etwas Gutes mit sich bringen kann. Und dazu trägt insbesondere auch ihre Dauer bei. Denn hatten viele beim ersten Lockdown noch die Idee, dass es nach ein paar Monaten wieder „wie früher“ würde, ist heute klar: Es wird nie mehr, wie es war. Für die, die auch heute noch keine Notwendigkeit zur Veränderung sehen, wird’s schwer. Aber daraus resultieren große Chancen für diejenigen, die mutig neue Chancen aufgegriffen haben. Mit den richtigen Ideen – Onlinepräsenzen, enger Kundenkontakt, toller Service – hat man eine vielversprechende Zukunft vor sich. Dann gilt: The best is yet to come.
Über den Autor:
Wolfgang Kirsch ist einer der anerkanntesten Experten für Consumer-Electronics und Handel in Europa. Er war für viele Jahre Geschäftsführer der MediaMarktSaturn Retail Group und arbeitet heute als Berater für Händler, Hersteller und Private Equity Unternehmen sowie als Senior Advisor bei der Unternehmensberatung McKinsey. Kirsch ist an mehreren Startups beteiligt, zum Beispiel an der Vitaboni AG, wo er auch als Aufsichtratsvorsitzender agiert. Vitaboni bietet nachhaltige Kapseln mit Bio-Kaffee für das Nespresso-System an.
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