Interview: Otto-Vorstand Sergio Bucher über stationären Handel in Corona-Zeiten.

von Florian Treiß am 05.Mai 2021 in Highlight, Interviews, News

„Eines lässt sich ganz sicher sagen: Wir sind inzwischen Expert*innen im Öffnen, Schließen und Wiederöffnen unserer Stores. Es braucht also viel Improvisationstalent und vor allem auch eine große Flexibilität“, sagt Sergio Bucher zum Einzelhandel in der Corona-Krise. Als Konzern-Vorstand Brands and Retail verantwortet er bei der Otto Group seit Anfang 2020 unter anderem die stationären Läden des Konzerns. Denn auch wenn man bei Otto zunächst eher an den Versandhandel denken mag, so betreibt die Unternehmensgruppe auch viele klassische Geschäfte, etwa von Manufactum in Deutschland oder von Crate and Barrel in den USA. Wir haben mit Sergio Bucher, der vor seinem Start bei der Otto Group der CEO der britischen Kaufhauskette Debenhams war, darüber gesprochen, wie der Stationärhandel künftig krisenfester werden kann.

Location Insider: Herr Bucher, wie kommen die stationären Läden der Otto Group durch die Corona-Krise?

Sergio Bucher: Keine Frage, die Herausforderungen der vergangenen Monate, gerade im Stationärhandel, waren wirklich groß, vor allem im März und April des Vorjahres. Trotz all‘ der Stürme und Unwägbarkeiten noch den Kurs zu halten, das hat sich oft angefühlt wie eine Achterbahnfahrt.

Mit Blick auf die Performance der einzelnen Kategorien hat uns, wie den meisten Mitbewerbern auch, der Fashionbereich zu Beginn der Pandemie Sorgen bereitet, sich dann aber recht schnell wieder vernünftig entwickelt. Der Sektor Home and Living lief dagegen durchgehend hervorragend.

Zum Glück haben wir auch bei unseren Stationärhändlern sehr früh die digitale Transformation vorangetrieben. Das hat uns befähigt, einen schnellen Shift von Off- und Online hinzubekommen. Im Schnitt hat das dazu geführt, dass die jeweiligen Händler im Geschäftsjahr 2020/21 rund fünfzig Prozent ihrer Umsätze online gemacht haben. Das wird Händlern mit hohem Stationäranteil wie Manufactum oder Crate and Barrel auch in naher und mittlerer Zukunft große Vorteile verschaffen und hat jetzt geholfen, die schwierigen Phasen während der Lockdowns erfolgreich zu meistern.

Location Insider: Gibt es dabei Unterschiede bzgl. Marken und Ländern?

Sergio Bucher: Ja, durchaus. Wir alle haben ja verfolgen können, wie schwer beispielsweise die USA unter der Corona-Pandemie gelitten haben. Gerade die wiederholten Lockdowns haben natürlich auch massive Auswirkungen auf den Offline-Retail und damit auch für Crate and Barrel gehabt. Bis zum Sommer 2020 hat das Geschäft unser Kolleg*innen vor Ort entsprechend gelitten. Zum Glück sind die Umsätze seit August aber wieder stark angestiegen, nicht zuletzt aufgrund der hervorragenden Arbeit unserer neuen CEO Janet Hayes und aller Mitarbeitenden.

Etwas anders sieht es in Deutschland aus. Hier haben wir natürlich auch kämpfen müssen; das ist uns aber über alle Geschäftsmodelle hinweg wirklich durchgängig gut gelungen. Als Beispiel seien hier nur Manufactum und Frankonia genannt.

„Radikaler Strukturwandel“

Location Insider: Ihr früherer Arbeitgeber Debenhams hat die Corona-Krise nicht überlebt und wird nun liquidiert. Wie froh sind Sie, das nicht mehr als CEO miterleben zu müssen?

Sergio Bucher: Was wir aktuell in Großbritannien sehen können, ist schlicht ein radikaler Strukturwandel. Viele tradierte Einzelhändler verschwinden oder werden von Online-Pureplayern wie Asos oder Boohoo übernommen. Allein die Insolvenzen haben im vergangenen Jahr mehr als zehn Prozent des britischen Fashion-Marktes ausgemacht. Damit entstehen aber auch Chancen für andere Unternehmen, die ihre Vertriebskanäle entsprechend digitalisiert haben wie zum Beispiel in unserem Fall unser Fashion-Player Freemans.

Location Insider: Zurück zur Otto Group: Wieviel Improvisation ist eigentlich erforderlich, wenn sich gefühlt die Corona-Bestimmungen alle paar Tage ändern und zudem lokal unterschiedlich sind?

Sergio Bucher: Eines lässt sich ganz sicher sagen: Wir sind inzwischen Expert*innen im Öffnen, Schließen und Wiederöffnen unserer Stores. Es braucht also viel Improvisationstalent und vor allem auch eine große Flexibilität. Wir waren gezwungen, unsere Sortimente und Angebote innerhalb kürzester Zeit immer wieder neu auszurichten. Mich hat deshalb wirklich sehr beeindruckt, wie engagiert unsere Teams in den verschiedenen Unternehmen mit der Situation umgegangen sind – ganz nach dem Vorsatz: die Chancen, die sich bieten, nutzen, aber dabei gleichzeitig immer flexibel bleiben.

„Wir glauben an Omnichannel“

Location Insider: Können Sie angesichts solcher externen Effekte eigentlich noch ihrer ursprünglichen Roadmap bei der Otto Group nachgehen?

Sergio Bucher: Auf jeden Fall. Viele Unternehmen, die im Stationärhandel aktiv sind, hat die Pandemie wirklich hart getroffen. Wir fühlen uns eher bestätigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind und sehen die Chancen, die sich jetzt ergeben. Wir glauben an Omnichannel und damit auch an Offline-Retail-Konzepte, wenn sie inspirierend sind und auf die konsequente Digitalisierung ihrer Vertriebskanäle und Geschäftsmodelle setzen. Fakt ist: Unsere Marken sind erfolgreich und profitabel unterwegs. Die Richtung stimmt.

Location Insider: In den letzten Monaten war immer wieder die Rede davon, der Handel müsse sich „resilienter“ aufstellen, um externe Schocks wie etwa eine solche Pandemie besser verdauen zu können. Wie könnte ein solcher Ansatz aussehen?

Sergio Bucher: Es geht um die richtige Ausbalancierung der verschiedenen Vertriebskanäle. Und spätestens jetzt sollte auch jedem Stationärhändler klar sein: Ohne Online geht es zukünftig nicht mehr. Wer das immer noch nicht verstanden hat, wird sich auf Sicht aus der Wettbewerbsarena verabschieden. Außerdem hat sich in den vergangenen Monaten gezeigt, wie wichtig ein konstruktives Verhältnis zum jeweiligen Vermieter von Ladenflächen ist, um auch unruhige Zeiten überleben zu können.

Location Insider: Anlässlich Ihres Starts bei der Otto Group (noch vor der Corona-Krise) wurden Sie vom Unternehmen in einer Pressemitteilung unter anderem dafür gelobt, dass Sie in Ihrer vorherigen Statation ein „umfassende Sanierungs- und Restrukturierungsstrategie initiiert und verantwortet haben“. Wie groß ist denn der Bedarf an Sanierung und Restrukturierung in Ihrem Verantwortungsbereich „Brands and Retail“?

Sergio Bucher: Zunächst einmal: Als ich bei der Otto Group angefangen habe, habe ich schnell feststellen dürfen, dass alle Unternehmen hervorragend aufgestellt sind. Aber klar ist auch: Handelsunternehmen müssen ihren eingeschlagenen Weg ständig überprüfen, sich selbst hinterfragen und die eigene Strategie gegebenenfalls anpassen, um zukunftsfähig zu bleiben – schlicht und ergreifend, weil sich die Handelslandschaft so schnell verändert, wie wir gerade jetzt wohl deutlicher denn je sehen können. Wer nicht bereit ist, sich anzupassen, der wird keine Zukunft haben.

Also anders gesagt: Keines der Unternehmen in meinem Verantwortungsbereich muss restrukturiert werden; es geht vielmehr darum, immer wieder sehr kreativ über das eigene Geschäftsmodell nachzudenken und die richtigen Schlüsse zu ziehen. Bisher gelingt uns das sehr gut.

„Wir brauchen einen noch zielgerichteteren Beratungsservice“

Location Insider: Wie wollen Sie dafür sorgen, dass der Stationärhandel nach Ende der Lockdowns sein Comeback schafft?

Sergio Bucher: Auch wir müssen uns auf das veränderte Konsument*innenverhalten einstellen. Wir haben beispielsweise festgestellt, dass wir nach den Lockdowns weniger Besucherverkehr in unseren Filialen hatten, dafür aber höhere Conversion Rates. Das wird zukünftig auch Auswirkungen auf unsere Personalstruktur in den Geschäften haben. Wenn mehr Kund*innen auch tatsächlich etwas kaufen und sich nicht nur inspirieren lassen wollen, brauchen wir einen entsprechenden, noch zielgerichteteren Beratungsservice.

Außerdem werden wir die Bestände in unseren Stores erhöhen, damit wir niemanden enttäuschen müssen. Generell wird es auch in Zukunft darum gehen, unseren Kund*innen ein echtes Einkaufserlebnis zu bieten, Orte der Begegnung, der Inspiration, aber auch der Interaktion.

Location Insider: Inwieweit wird dabei die Omnichannel-Denkweise noch wichtiger?

Sergio Bucher: Omnichannel ist keine Zukunftsmusik mehr, sondern längst Realität. Genau so shoppen Menschen heute – mit ihrem Smartphone in der Hand, der Möglichkeit, Preise immer und überall zu vergleichen, die eigenen Freund*innen kurz um ihre Meinung zu bitten. Menschen wollen in genau dem Moment einkaufen, in dem sie inspiriert werden. Der Kanal ist dabei zweitrangig. Deshalb ist es ja so entscheidend, die eigenen Vertriebskanäle intelligent miteinander zu verknüpfen und die Chancen der Digitalisierung zu ergreifen.

Location Insider: Welche Themen für die Digitalisierung des stationären Handels halten Sie für besonders wichtig?

Die für unsere Kund*innen wichtigste Technologie haben sie selbst immer an Bord: ihr Smartphone. Es geht also nicht darum, irgendwelche Leihtablets zur Verfügung zu stellen, sondern die eigene Technologie im Store wirklich im Sinne der Besucher*innen auszurichten. Wie das funktionieren kann, zeigt der Bonprix Fashion Connect Store in Hamburg. Im Backend ist es vor allem wichtig, die eigenen Prozesse, zum Beispiel das Bestandsmanagement, zu digitalisieren.

Location Insider: Wo wird Ihr Verantwortungsbereich „Brands and Retail“ in fünf Jahren stehen: Was haben Sie hier noch für Pläne?

Die größte sichtbare Veränderung wird sein, dass unsere Stationärläden noch mehr als heute schon zu echten Erlebnisorten werden, an denen Menschen zusammenkommen, um eine schöne Zeit zu haben, Neues kennenzulernen und, ja, natürlich auch, um zu shoppen. Im Hinblick auf unsere Marken werden wir den Fokus noch stärker darauf legen, unsere Kund*innen auf einer emotionalen Ebene zu erreichen und sie für unsere Marken zu begeistern. Wir haben da schon einiges in Planung, so viel kann ich schon jetzt verraten.

Location Insider: Vielen Dank für das Interview!


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