Interview: Unternehmensberater und Handelsexperte Wolfgang Lux über die Zukunft des Handels.

von Christian Bach am 10.September 2014 in Interviews

wolfgang luxWolfgang Lux kennt sich mit dem deutschen Handel aus: Viele Jahre war der heute 55-jährige Unternehmensberater u. a. als Top-Manager bei der Metro-Gruppe tätig, leitete zwischen 2001 und 2010 bei Media-Saturn die Ressorts IT, Logistik, Organisation sowie Technische Innovation und war zuletzt Geschäftsführer bei der Drogeriemarktkette Müller. 2011 erschien sein Buch „Innovationen im Handel“, in dem er der Frage auf den Grund geht: Wie reagiert der Handel auf die Megatrends der Zukunft? Locafox sprach mit Wolfgang Lux in Berlin über die Zukunft des stationären Handels, die Probleme des Paradigmenwechsels und das Potential von Local Commerce.

(Dieses Interview erschien zuerst im Blog von Locafox. Das Berliner Startup bietet Kunden eine lokale Einzelhandels-Produktsuchmaschine.)

Thilo Grösch (Locafox): Herr Lux, immer mehr stationäre Einzelhändler schließen in deutschen Innenstädten ihre Geschäfte, der Online-Handel hingegen boomt. Wie ernst ist die Lage für den Stationärhandel?

Wolfgang Lux: Wir befinden uns derzeit noch in der ersten Hälfte des Paradigmenwechsels. Viele stationäre Händler denken, sie haben das Internet bereits „überlebt“, aber der Markt wird sich in den kommenden Jahren noch weiter selbst bereinigen. Dabei trifft es vor allem diejenigen, die eh schon Probleme haben – wie zum Beispiel in der Vergangenheit Schlecker oder heute wieder Karstadt. Eines der Hauptprobleme vieler standortgebundener Händler: Sie haben den Punkt der proaktiven Veränderung verpasst und leiden jetzt unter Margendruck, verdienen kaum noch Geld. Der deutsche Stationärhandel ist an vielen Stellen immer noch zu langsam.

Thilo Grösch: Wie sieht die Zukunft aus?

Wolfgang Lux: Wir werden auch im E-Commerce irgendwann eine Sättigung erreichen, das ist ja jetzt schon absehbar. Es wird jedoch auch branchen- und sortimentsabhängig sein, wie hoch der Online-Anteil am Gesamteinzelhandelsumsatz letztlich ausfällt. Im Non-Food-Segment sind wir, glaube ich, noch nicht am Ende. Besonders bei Produkten, die sich schnell vergleichen lassen, wie z. B. Elektronikartikel und Bücher, wird der E-Commerce auf Dauer erfolgreicher sein als der Stationärhandel, so wie wir ihn momentan kennen. Da hilft es nur, konsequent auf Multi-Channel zu setzen und schmerzhafte Einschnitte in das stationäre Ladennetz zu akzeptieren.

Thilo Grösch: Wenn Sie sagen, Deutschland ist zu langsam: Wen sehen Sie als Vorreiter-Land?

Wolfgang Lux: Was Innovationen im Handel anbelangt, sind es ganz klar die angelsächsischen Länder. Daneben ist die Schweiz im Innovationsindex sehr weit vorne, die zum Beispiel die Technologie der QR-Codes sehr schnell aufgegriffen und damit experimentiert hat. Auch die Franzosen sind, vielleicht etwas überraschend, weiter als wir. Dabei gibt es auch hierzulande gute Ansätze, wie zum Beispiel von Otto, Tengelmann mit seinem Venture Capital oder REWE mit der neuen E-Commerce-Divison. Der Fehler in Deutschland ist, dass immer wieder auf die Performance eines einzelnen Kanals geschaut wird, und wenn er nicht profitabel ist, wird er wieder gekillt. „Damit lässt sich kein Geld verdienen“, ist oft zu hören. Es gibt derzeit aber keinen deutschen stationären Händler einer nennenswerten Größe, der mit dem Internet, isoliert als Kanal, Geld verdient. Man muss das aber in Kombination sehen und sich die Frage stellen, was mit dem klassischen Kanal passiert, wenn man nicht auf Multi-Channel setzt.

Thilo Grösch: Welche modernen Konzepte für die Rettung des stationären Einzelhandels halten Sie für sinnvoll?

LocafoxWolfgang Lux: Es existiert eine ganze Reihe von Ideen, den stationären Einzelhandel „aufzupeppen“. Zunehmend gibt es Start-ups, die Technologien für den standortgebundenen Handel entwickeln und bereitstellen. Locafox ist da ein Beispiel. Ein anderes Start-up bietet z. B. die Möglichkeit, das Schaufenster elektronisch mit Gestensteuerung zu versehen und entsprechend zu digitalisieren. Aber auch andere Entwicklungen wie das Bezahlen mit dem Smartphone, die Speicherung von Kundenkarten auf dem Smartphone oder die iBeacon-Technologie, mit der sich Produkte zu einem interaktiven Device machen lassen, halte ich für sehr sinnvoll. So lässt sich eine Beziehungsebene zwischen den Produkten im Markt und dem Kunden herstellen, und Kauf-Entscheidungen können daraus in Echtzeit abgeleitet werden.

Thilo Grösch: Welches Potential sehen Sie im Local Commerce, also in der Digitalisierung des klassisch stationären Handels?

Wolfgang Lux: Ich sehe darin ein sehr großes Potential! Local Commerce verbindet das Internet mit dem lokalen Einzelhandel. Das ist eine Riesenchance, den stationären Handel mit Technologien aufzufrischen, die für den Kunden convenient, also zweckdienlich sind. Convenience ist ein großer Trend. Nehmen wir Ihre Idee als Beispiel: Eine Anwendung wie Locafox, die mir auf meinem Smartphone Produkte und Geschäfte in meiner Umgebung zeigt, ist für mich als Kunden absolut hilfreich. Ich kann Läden finden, die ich sonst nicht finden würde und bekomme alle möglichen Informationen zu Produkt und Geschäft. Das ist toll.

Thilo Grösch: Wie weit ist Deutschland hinsichtlich Local Commerce?

Wolfgang Lux: In meinem 2011 erschienenen Buch „Innovationen für den Handel“ habe ich prognostiziert, dass wir in den nächsten fünf Jahren im Local Commerce erhebliche Veränderungen sehen werden – jetzt sind fast drei von fünf Jahren rum und es gibt positive Ansätze, aber ein Durchbruch im Local Commerce ist bisher noch nicht zu erkennen. Das bedeutet: Es ist zu erwarten, dass sich der stationäre Einzelhandels-Markt weiter bereinigen wird, wir weiter Effekte wie bei Schlecker und Praktiker sehen werden. Das ist für den Stationärhandel auch in anderer Hinsicht kontraproduktiv: Wenn ganze Marktspieler verschwinden, verteilt sich der freiwerdende Umsatz auf den gesamten Handel und geht nicht eins zu eins ins E-Commerce – dadurch aber werden die eigentlichen Probleme temporär verdeckt; es findet eine Verschleierung des Problems statt. Ich gehe heute davon aus, dass es noch fünf bis zehn Jahre dauern wird, bis sich Local-Commerce-Konzepte in Deutschland etabliert haben. So sicher wie das Amen in der Kirche ist aber auch, dass Händler das Potential von Local Commerce erkennen, mitziehen und dadurch andere unter Druck setzen.

Thilo Grösch: Was müssen stationäre Einzelhändler tun, um ihren Umsatz und damit langfristig ihr Überleben zu sichern?

Wolfgang Lux: Das hängt natürlich von der Größe des Händlers und von seinem Sortiment ab. Ein großer, stationärer Händler im Non-Food-Bereich muss heute ein Multi-Channel-Konzept haben, also online vertreten sein und sich überlegen, wie er die Preis-Positionierung im Internet mit den stationären Preisen verbindet. Das ist ein großes Problem, weil Händler stationär höhere Fix-Kosten haben, so auch höhere Preise nehmen müssen, was die Kunden aber nicht mehr tolerieren. Sie sind die im Internet günstigen Preise gewohnt. Was viele Händler jedoch übersehen: Die Konsumenten sind online, sie nutzen das Internet, um sich zu informieren – das sollten sich umgekehrt die lokalen Einzelhändler zu Nutze machen, um die Kunden zurück ins Ladengeschäft zu holen.

Thilo Grösch: Reicht es als Händler aus, dem Kunden den Preisunterschied von Laden und Internet zu erklären, zum Beispiel durch einen sehr guten Service und eine gute Beratung?

Wolfgang Lux: Nein, das reicht meiner Meinung nach nicht aus. Aber es hängt von der Positionierung ab: Wenn Sie mit Ihrem Produkt nicht im Preisfokus sind, dann haben Sie diese Probleme auch nicht. Bis jemand kommt, der im Internet die gleichen Produkte auf einmal deutlich günstiger anbietet als Sie, wie zum Beispiel in der Parfümbranche oder aktuell im Möbelhandel. Dann geraten Sie von jetzt auf gleich unter Druck. Ein anderes Beispiel: Wenn Sie als großer Elektronikmarkt über Jahrzehnte den Slogan verbreitet haben, dass Sie den besten Preis anbieten, und der Kunde feststellt, dass es die Produkte im Internet aber günstiger gibt und damit zu Ihnen in den Laden kommt, dann kommen Sie aus dieser Positionierung nicht mehr so leicht heraus. Dann müssen Sie nachgeben und die stationären Preise auf Internetniveau angleichen, wenn Sie den Kunden nicht verlieren möchten.

Thilo Grösch: Ist es denn im Internet tatsächlich immer günstiger?

Wolfgang Lux: Nein, es ist bei Weitem nicht immer günstiger, gerade Media Markt hat ja zum Beispiel ganz stark an der Preisschraube gedreht. Dennoch gibt es im Internet häufig Anbieter, besonders im Elektronikbereich, die ein bestimmtes Produkt billiger anbieten als im stationären Handel. Das Problem der kleineren stationären Händler ist, dass sie, selbst wenn sie günstiger sind, häufig nicht genug Aufmerksamkeit auf sich ziehen können, sie können mit den großen Playern im Internet bei der Sichtbarkeit nicht mitziehen, werden nicht gefunden und ihre Angebote gehen unter. Sichtbar sind sie nur, wenn sie in der Suchliste oben stehen, also günstig sind.

Thilo Grösch: Es sei denn vielleicht, Sie sind als stationärer Händler mit einer groß angelegten Werbekampagne aktiv …

Wolfgang Lux: … die aber Geld kostet. Die Zeiten der Werbekostenzuschüsse (WKZ) erodieren durch das Internet ja immer mehr, weil die Unternehmen ihre Marketinggelder auf andere Kanäle verteilen. Dass der WKZ, wovon der Handel lange Zeit gelebt hat, für die stationären Händler immer häufiger wegfällt, ist ein weiteres Problem des Paradigmenwechsels für den standortbasierten Handel. Schon alleine deshalb müssen stationäre Händler sich für Multikanal- und Local-Commerce-Konzepte öffnen und anhand dessen auch Dienste wie Same-Day-Delivery anbieten. Auch individuelle CRM-Maßnahmen für Smartphones und Tablets sind von großer Bedeutung, um den Kunden Echtzeit-POS-Angebote zu machen, wenn sie in der Nähe des Geschäftes sind. Das in Kombination würde dem stationären Handel sicher eine Perspektive geben, da bin ich felsenfest von überzeugt.

Thilo Grösch: Wie würden Sie heute ein neues Marktkonzept, zum Beispiel im Elektronikbereich, stationär aufziehen?

Wolfgang Lux: Ich würde viel, viel kleinere Märkte mit deutlich geringerer Ladenfläche gestalten und dort nur schnell drehende Produkte anbieten, die der Kunde sofort mitnehmen kann. Mit der Sortimentsvielfalt im Internet kann eh kaum ein stationärer Markt mehr mithalten. Die sich langsam drehenden Artikel wären in sehr breiter Auswahl nur online verfügbar. So kann sich der Kunde anschauen, was er kaufen möchte, ich berate ihn kompetent und biete ihm einen Lieferservice am gleichen Tag an, die Uhrzeit kann er sich selbst aussuchen.

Thilo Grösch: Welche Rolle wird Same-Day-Delivery in den kommenden Jahren einnehmen?

Wolfgang Lux: Das EHI Retail Institute (EHI) in Köln untersuchte im vergangenen Jahr, wie wichtig Same-Day-Delivery für Kunden ist und kam zu dem Ergebnis, dass eine Produktlieferung am gleichen Tag kaum gewünscht wird. Das ist meiner Ansicht nach aber nur die halbe Wahrheit. Der Kunde ist hybrid und möchte selbst entscheiden, ob er ein Produkt im Geschäft kaufen und dann gleich mitnehmen möchte oder ob es sich nach Hause liefern lässt, weil das für ihn bequem ist. Viele Kunden können sich zum aktuellen Zeitpunkt zudem auch noch gar nicht vorstellen, welche Qualität Same-Day-Delivery für sie bereithält. Das wäre in etwa so, als hätte jemand vor 20 bis 30 Jahren gefragt: Glaubst du, du brauchst tagtäglich das Internet, auch in einem mobilen Gerät, das du immer bei dir trägst? Da hätte wohl auch kaum jemand mit ‚Ja, klar!‘ geantwortet. Deswegen glaube ich, wird Same-Day-Delivery auf jeden Fall wichtig. Amazon geht ja mit seinem Prime-Angebot schon in diese Richtung.

Thilo Grösch: Inwiefern wird eine persönliche, individuelle Kundenberatung im Laden heute noch geschätzt?

Wolfgang Lux: Der Kunde kommt heute so gut informiert wie nie zuvor ins Geschäft. Tagelang recherchiert er im Internet nach Beschreibungen, Bewertungen und Kaufempfehlungen, vergleicht die Preise. Das macht eine kompetente Beratung durch den Händler schwieriger, denn eigentlich müssten die Verkäufer im stationären Handel noch viel besser geschult werden, die Produkte noch viel besser kennen, um auf Spezialfragen des Kunden eingehen zu können. Das bedeutet aber auch natürlich höhere Kosten, und genau daran scheitert es bei den meisten. Die kleinen Händler haben i. d. R. gar nicht das Budget, um so etwas zu finanzieren.

Thilo Grösch: Ladenketten wie Zara und John Lewis setzen auf das Click&Collect- bzw. Click&Reserve-Verfahren. Was halten Sie davon?

Wolfgang Lux: Als Ergänzung finde ich es sehr gut, so etwas möchte der Kunde auch haben: einerseits im Internet surfen, suchen und einkaufen, aber auch im stationären, lokalen Handel shoppen.

Thilo Grösch: Was war das letzte Produkt, das Sie sich gekauft haben und wo haben Sie es erworben – im Internet oder im stationären Einzelhandel?

Wolfgang Lux: Das war ein Kopfhörer, den habe ich online bei Amazon gekauft. Ein typischer Impulskauf: Ich habe mir mein iPad geschnappt und schnell bestellt. Eben solche Spontankäufe, die völlig irrational ablaufen, sind tödlich für den stationären Handel. Ich habe das Produkt aber auch wieder zurückgeschickt, weil es drahtlos an meinem Fernseher leider nicht so funktioniert hat, wie ich mir das vorgestellt habe. (lacht) Das wiederum ist für den Online-Handel ein Problem – Kunden schicken häufig bestellte Ware wieder zurück und verlangen, dass die Retoure kostenlos ist.

Thilo Grösch: Vielen Dank für das Gespräch!

(Beitragsbild: Smartphone/Shopping via shutterstock.com)

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