Der Handel braucht mehr Mut zur Veränderung: Interview mit Wolfgang Kirsch.

von Florian Treiß am 30.März 2021 in Highlight, Interviews, News

Wolfgang Kirsch blickt auf über 25 Jahre Erfahrung im Einzelhandel zurück (© Martin Hangen)

„Lassen Sie uns doch einmal von der Kette. Lassen Sie uns doch mal Vollgas geben und nicht einige Hundert Millionen Euro Ergebnis machen, sondern dieses Geld investieren.“ Das hat Wolfgang Kirsch in seiner Zeit als Geschäftsführer von MediaMarktSaturn mehrfach dessen Gesellschaftern angeboten, wie er im Interview mit Location Insider erzählt. Doch der kurzfristige Gewinn war oftmals wichtiger – und so spricht Kirsch bei uns über den oftmals fehlenden Willen zum Wandel im Handel. An Beispielen wie Galeria Karstadt Kaufhof oder Lidl erläutert er, was in der Branche heute falsch läuft. Und er erzählt, was ihn so sehr an Startups wie Vaund und Vitaboni fasziniert, an denen er sich selbst beteiligt hat.

Location Insider: Herr Kirsch, wo kaufen Sie selber persönlich gerne ein, Restriktionen durch Corona-Lockdowns einmal ausgenommen?

Wolfgang Kirsch: Da wo ich bin. Also, ich habe drei Standorte. Ich habe nach wie vor ein Haus in der Nähe von Ingolstadt. Das ist meiner Vergangenheit bei MediaMarktSaturn in Ingolstadt geschuldet. Ich habe eine Wohnung in München, mitten in der Stadt. Und ich habe noch ein kleines Häuschen für das Wochenende in Sankt Johann in Tirol.

Ich kaufe in München beim Edeka um die Ecke ein, einfach weil er da ist. In Karlshuld, das ist das Dorf außerhalb von Ingolstadt, da kaufe ich auch im Edeka ein. Da gibt es sogar zwei. Der eine ist ein altbackener Laden, nicht mein Ding. Und der andere ist ein moderner Edeka, da gehe ich hin.

In Sankt Johann gibt es MPREIS und SPAR, der ist genau gegenüber. Der SPAR ist eigentlich viel besser. Warum gehe ich noch zum MPREIS? Der MPREIS hat den weltbesten Metzger. Das heißt, ich kaufe da ein, wo ich es am nächsten habe. Ich glaube, das ist ein absoluter Trend: Die Marke wird weniger wichtig als die Entfernung – und das zum Beispiel bei Supermärkten schon, wenn nur ein- oder zweihundert Meter dazwischen liegen.

Vom Trend „Ich kaufe um die Ecke“ profitieren

Location Insider: Das erklärt auch das Thema Flächenexpansion, dass Händler immer näher an den Kunden heranwollen, immer weiter expandiert sind. Und jetzt haben wir aber das Problem, dass es zu viel Fläche gibt. Wie würden Sie eine De-Expansion angehen oder Flächen optimieren?

Wolfgang Kirsch: Das ist von Handelszweig zu Handelszweig unterschiedlich. Bei den Baumärkten würde ich sagen, dass wir in Deutschland nicht nur zu viel Fläche, sondern auch ein bis zwei Ketten zu viel haben. Es wäre eigentlich Zeit für eine Konsolidierung – aber auch die Schlechten haben letztes Jahr noch einmal Luft bekommen, durch die Corona-Sonderkonjunktur. Man hatte ja erwartet, dass die Kunden nach der ersten Lockdown-Phase ihr Geld zusammenhalten. Aber die Baumärkte haben stattdessen einen Boom erlebt. Nichtsdestotrotz: Irgendwann kommt da aus meiner Sicht der Schlag. Und mit den Ketten erledigt sich auch das Thema Fläche.

Im Bereich Elektronik glaube ich nicht, dass MediaMarkt und Saturn zu viel Fläche haben. Einige Märkte sind zu groß und in einigen, kleineren Städten sind zwei Märkte einer zu viel. Gleichzeitig kann das Unternehmen an anderen Orten nicht vom Trend „Ich kaufe um die Ecke“ profitieren – weil sie nicht da sind. Die Brücke müsste deshalb sein, neben den normalen Märkten immer einen Laden in einigermaßen guter Erreichbarkeit zum Kunden zu haben. Das könnte man zum Beispiel machen, indem man neben dem bisherigen Gesellschafter-Modell – 90% gehört der Zentrale, 10% dem Geschäftsführer – auch Franchising ermöglicht. Dann kommt der Kunde an ganz vielen Orten zu mir oder hat meine Marke im Kopf, wenn er online kauft.

Location Insider: Ist es für stationäre Händler nicht wahnsinnig schwierig, auch im Onlinehandel relevant zu sein?

Wolfgang Kirsch: Ich finde, MediaMarkt und Saturn bringen das ganz gut zusammen. Dort gibt es diese verschwimmenden Welten. Wenn ein Produkt vor Ort nicht verfügbar ist, sagen dort viele Verkäufer: Ich habe es zwar nicht hier, weil die Kitchen-Aid-Maschine in grün, die kauft kaum einer hier bei mir. Aber im Onlineshop haben wir sie natürlich. Und die kann ich dir nach Hause schicken oder du kannst sie morgen abholen.

Um das zu ermöglichen, braucht man sehr breite Online-Sortimente im Kerngeschäft – und da liegt häufig ein Knackpunkt. Nehmen wir das Beispiel Lidl. Für was steht Lidl? Lidl steht in erster Linie für billige Lebensmittel. Der Online-Shop hat aber keine Lebensmittel. Das macht ja keinen Sinn. Das Unternehmen rühmt sich ja: Wir machen eine Milliarde Online-Umsatz. Aber das ist nur ein minimaler Prozentsatz vom Gesamtumsatz. Der Online-Shop ist für die Schwarz-Gruppe eher ein Feigenblatt. Wenn ich ein Spezialist bin, muss ich doch das, was ich habe, auch online abbilden.

Bau mir einen Tesla, aber von Tag eins an mit Gewinn

Location Insider: Wie hoch ist die Lernfähigkeit von Handelsmanagern? Wie groß ist der Mut zum Ausprobieren neuer Formate?

Wolfgang Kirsch: Das ist unterschiedlich ausgeprägt. Die allermeisten sind leider sehr konservativ, probieren mal etwas aus, weil es auch toll klingt, mit einem Testmarkt. Aber sich zu einem wirklichen Roll-Out zu bekennen, dazu gehört natürlich immer auch das Risiko, vorübergehend weniger Gewinn zu machen. Denn natürlich könnte man schneller und aggressiver digitalisieren. Das hat aber kurz- und mittelfristig einen negativen Einfluss auf die Gewinne. Grund: Ich werde relativ schnell einheitliche Preise haben müssen, online und stationär. Viele lassen das deshalb und sagen: Stationär mache ich ein besseres Geschäft. Ich kann mehr Zubehör verkaufen. Ich kann mehr Services verkaufen. Ich erziele eine bessere Handelsspanne.

In meiner aktiven Zeit hab ich den Gesellschaftern meines Arbeitgebers mehr als einmal angeboten: Lassen Sie uns doch einmal von der Kette. Lassen Sie uns doch mal Vollgas geben und nicht einige Hundert Millionen Euro Ergebnis machen, sondern dieses Geld investieren – für zwei, drei Jahre in den Umbau der Organisation, in aggressivere Preise, um die Wettbewerber einmal ein wenig wegzudrücken, um für eine Konsolidierung im Markt zu sorgen. Und in eine IT-Struktur, die uns befähigt, das alles zu tun, zu investieren. Aber die Antwort auf sowas war: Nein, das muss auch gehen, ohne dass es Gewinn kostet. Und das ist – so fürchte ich – der Klassiker. Nicht nur im Handel. Bau mir einen Tesla, aber von Tag eins an mit Gewinn. Wechsele von Software-Verkaufen auf Abos, aber mit stabilem Jahresumsatz. Oder kurz: Verändere Dich, aber verändere Dich nicht!

Ich hab mal darüber geschrieben, dass ich mir wünschen würde, dass sich Fehler nicht immer wieder wiederholen würden. In 2016, 2017 hat Kaufland/Lidl bzw. die Schwarz-Gruppe viel Geld ausgegeben, um einen Onlineshop ins Leben zu rufen, den dann Herr Schwarz persönlich wieder geschlossen hat. Jetzt weiß man es nicht ganz genau, aber die Lidl-Schwarz-Gruppe macht einen Umsatz von circa hundert Milliarden. Und ungefähr vier, fünf Milliarden Gewinn im Jahr. Und das ist eine Stiftung, die gehört Dieter Schwarz. Das heißt, dem redet keiner rein, wie viel Ergebnis er machen muss und wie viel Geld er verdienen muss. Der könnte ganz bequem sagen: Ich investiere jedes Jahr 500 Millionen Euro von meinen vier Milliarden Gewinn in den Aufbau eines Online-Lebensmittelvertriebs. Und das mache ich die nächsten fünf Jahre. Ich gebe 2,5 Milliarden aus und dann schauen wir einmal, wer hier noch steht. Und was macht er? Der reichste Deutsche sagt: Ich akzeptiere nicht, dass der Onlineshop ein paar Millionen Euro Verlust macht. Einige Jahre später fängt er nun mit dem Kauf von real.de nochmal von vorne an.

MyTheresa lacht sich bei Oberpollingers Online-Ansatz in die Fäuste

Location Insider: Zur Zukunftsfähigkeit des Handels: Welche Handelskonzepte funktionieren aus Ihrer Sicht denn heute nicht mehr?

Wolfgang Kirsch: Wen ich aktuell nicht für zukunftsfähig halte, ist Galeria Karstadt Kaufhof, weil die an vielen Stellen einfach den Schuss nicht gehört haben. Ich habe von Oberpollinger, also auch noch das Highend-Haus des Konzerns, eine Mail bekommen: „Schreiben Sie uns an personalshopping@oberpollinger.de – wir stellen Ihnen die gewünschten Produkte aus unserem Haus zusammen und senden sie Ihnen zu.“ Und dann noch die Ergänzung: „Die Lieferung ist innerhalb der Stadt München kostenlos. Für eine Lieferung außerhalb Münchens ist der Versand ab einem Wert von 150 Euro kostenlos, bis zu diesem Wert kostet der Versand 10 Euro.“ Die Luxus-Onliner wie MyTheresa lachen sich bei so einer Ansprache ins Fäustchen.

(Nachtrag der Redaktion vom 31. März: Oberpollinger zählt formell mittlerweile nicht mehr direkt zur Karstadt-Familie, sondern zur KaDeWe Group, einem Joint Venture von Karstadt-Kaufhof-Eigentümer Signa Retail sowie der Central Group aus Thailand.)

Auch an anderer Stelle sieht man dort viel Ideenlosigkeit. Wie wäre es, statt alle in Kurzarbeit zu schicken, in fernmündliche Beratung zu investieren? Aber ich sehe da aktuell nicht mal Ansätze. Mir scheint dort viel Finanz-Know-how, aber wenig Handels-Know-how am Werk zu sein.

Location Insider: Stichwort Sale. Früher gab es noch diese Winterschlussverkauf-Sommerschlussverkauf-Kultur. Heute gibt es immer Sale. Ist überhaupt noch eine Kunde bereit, den regulären Preis zu zahlen?

Wolfgang Kirsch: Ich glaube schon, dass Menschen noch den regulären Preis zahlen – das zeigt nicht nur das Beispiel Apple. Ich finde es unabhängig davon wichtig, den „Sale“ geschickt zu steuern und das macht wiederum mein alter Laden gar nicht schlecht. Der stationäre Markt macht abends um 20 Uhr zu. Und um 20 Uhr geht online fast täglich irgendeine Aktion los, die morgens um 9 Uhr, wenn der Laden öffnet, wieder vorbei ist. Dann habe ich die Möglichkeit auch zu wählen zwischen: Das ist ein Artikel, den kann der Kunde genauso auch morgen im Laden abholen, wenn er nachts bestellt. Oder es geht eben nicht, denn ich habe den nur online und stationär nicht, er wird nur verschickt. Das akzeptiert der Kunde auch.

Sofort umsetzen vs. ein halbes Jahr passiert nix

Location Insider: Sie sind Ende 2018 nach 25 Jahren bei MediaMarktSaturn raus. Was machen Sie heute?

Wolfgang Kirsch: Ich habe Ende 2019 eine Anfrage von McKinsey bekommen und arbeite als Externer bei sehr vielen Projekten mit. Das macht sehr viel Spaß. Ich berate auch darüber hinaus Handelsunternehmen, aber auch andere Branchen. Denn es gibt einige Manager, die sagen: Wir können etwas davon lernen, was bei Consumer Electronics passiert ist. Obwohl wir nicht Handel sind. Aber Digitalisierung betrifft uns ja ganz genauso. Und Multi-Channel betrifft uns auch ganz genauso.

Ich habe mich außerdem an zwei Startups beteiligt. Im Startup macht es Spaß, dass man beschließen kann: Das müssen wir jetzt anders machen. Und dann wird es ab dem nächsten Tag anders gemacht. Während in einem Konzern, da entscheiden Sie irgendetwas in einem Board-Meeting, das wird protokolliert. Sie haben die Illusion, dass da jetzt etwas passiert. Aber dann stellen Sie ein halbes Jahr später fest: Es ist nichts passiert. Weil irgendjemand in der Organisation – wer und wo auch immer – entschieden hat, dass das keine gute Idee ist.

Also insgesamt ist mir nicht langweilig, aber ich arbeite viel weniger als früher. Dieser Mix an Aufgaben erweitert zudem den Horizont ungemein. In wirklich massiv großen Projekten mit McKinsey zu arbeiten und dann als Nächstes wieder einen Call zu haben mit einem der Gründer meiner Startups und sich zu besprechen. Das ist ein sehr spannender Spagat, der echt viel Spaß macht.

Location Insider: Vielen Dank für das spannende Gespräch!


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