„Die Digitalisierung muss weitergehen“: Teil 2 unseres Handels-Ausblicks 2021.

von Kay Ulrike Treiß am 15.Dezember 2020 in Highlight, News, Trends & Analysen

„Der Handel muss resilient auf die Veränderungen im Markt reagieren“, so Wolf-Jochen Schulte-Hillen im ersten Teil unseres Rückblicks auf 2020 und Ausblicks für 2021. Heute lesen Sie weitere starke Stimmen aus der Welt des Handels: GRAVIS-Geschäftsführer Jan Sperlich, Microsofts Retail-Expertin Xenia Giese, Betafashion-Gründer Sebastian Rieder und andere Fachleute erklären, wie sich der Handel heute und in Zukunft aufstellen muss, um weiter seine Kunden zu begeistern.

Jan Sperlich, Geschäftsführer GRAVIS

Wie war das „Corona-Jahr“ 2020 aus Handelsperspektive?

2020 war ein sehr intensives Jahr, in dem wir schnell, flexibel und mutig handeln mussten. Den Ausbruch des Corona-Virus haben wir von Anfang an sehr ernstgenommen und entsprechende Maßnahmen abgeleitet. Das funktionierende Zusammenspiel unserer Stores und unserem E-Commerce-Bereich wurde einmal mehr belohnt. So konnten wir Lieferengpässe umgehen, die Schließung einiger Stores ausgleichen, Hygienekonzepte schnell umsetzen und sogar neue Kund*innen gewinnen. Dabei hat unser Repair-Service eine wichtige Rolle gespielt. Dieser wurde schon in einem sehr frühen Stadium bundesweit als systemrelevant anerkannt, sodass wir nach wenigen Tagen an mehr als 20 Standorten wieder für unsere Kund*innen da sein konnten. Der Handel mit Technik und der Service rund um diese sind die Basis dafür, dass wir in diesem Jahr der physischen Distanz als Gesellschaft und als Individuen trotzdem verbunden bleiben konnten.

Was können wir daraus lernen?

Wir gehen mit drei Key-Learnings in 2021: Das Ohr an der Zielgruppe ist wichtiger denn je. Individuen hatten zuletzt viel Zeit für Reflexion: Was ist persönlich wichtig und was schien bisher grundlegend, ist es aber eigentlich gar nicht?! Hierauf muss sich der Handel schnell einstellen und entsprechend anpassen. Auch der Aspekt der Nähe erfährt eine zunehmende Bedeutung. Die notwendig gewordene physische Distanz hat das Bedürfnis nach Nähe, echtem Interesse – wir sagen „Neugier“ – auf ein neues Niveau gehoben. Das gilt in beide Richtungen: Interesse an Kund*innen, Mitarbeitenden und andersherum: Für welche Werte steht ein Unternehmen? Wie transparent und ehrlich erlebbar sind Unternehmen? Und zuletzt: Nachhaltigkeit ist kein Trend, der gerade das Handeln bestimmt und bald wieder geht. Nachhaltige Verhaltensmuster werden Standard. Das sehen wir schon heute in der gezielten Nachfrage nach TradeIn-Programmen, nach Refurbished-Produkten und auch im Zubehörsegment nach Produkten wie biologisch abbaubaren Handyhüllen.

Anna Weber, Geschäftsführerin BabyOne (Fotografin: Hanna Witte)

Wie war das „Corona-Jahr“ 2020 aus Handelsperspektive?

Ich glaube, keiner kann sich an ein so herausforderndes Jahr erinnern, wie es 2020 war. Lockdown, Lockdown light, Hotspot-Strategie, Gesundheitsschutz für Mitarbeiter und Kunden in einer Pandemie – immer wieder wurden wir als Unternehmer, die für ein Filialnetz von über 100 Fachmärkten in Deutschland, Österreich und der Schweiz verantwortlich sind, mit neuen Situationen und rechtlichen Regelungen konfrontiert. Mir persönlich war noch nie so sehr bewusst, was Agilität und Flexibilität im unternehmerischen Handeln bedeutet. Wir mussten immer wieder neue Wege gehen, improvisieren und vor allem Dinge ausprobieren.

Was können wir daraus lernen?

Aus Krisen wächst man, dieses Sprichwort trifft 100 Prozent zu. Wir bei BabyOne konnten Vieles lernen, insbesondere wie wir mit unseren Kunden digital in den Dialog treten, als die Fachmärkte geschlossen waren. Wir haben es geschafft, unseren Kunden durch klare und offene Information Sicherheit und Transparenz zu geben, sie nicht alleine zu lassen und über unsere digitalen Kanäle für sie erreichbar zu sein. Schließlich werden auch im Lockdown Babies geboren und junge Eltern haben naturgemäß einen sehr hohen Beratungsbedarf bei der Erstausstattung ihres Nachwuchses. Dazu mussten wir uns verändern, schnell und impulsiv handeln. Ich bin davon überzeugt, dass diese Veränderungsfähigkeit in Zukunft die Superkraft sein wird, mit der Unternehmen erfolgreich sein werden. Gleichzeitig hat uns das Jahr gezeigt, wie wichtig es ist, sich als Händler untereinander auszutauschen und gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Das Netzwerk Händler helfen Händlern, das wir mit initiiert haben, ist der Beweis dafür.

Stephan Schambach, Gründer NewStore

Wie war das „Corona-Jahr“ 2020 aus Handelsperspektive?

Es gibt Gewinner und Verlierer. Gewinner sind die Anbieter, die vom „Stay at Home“ profitieren konnten. Dazu zählen Bau- und Gartenmärkte oder Möbelanbieter. Diese haben überdurchschnittlich von den Einkäufen der zu Hause gebliebenen Konsumenten profitiert. Das betrifft deren stationäre Märkte ebenso wie deren Onlineshops. Überhaupt konnte der Onlinehandel enorm zulegen. Wer dazu in Omnichannel-Lösungen investiert hat und etwa auch auf Warenbestände der Retail Stores zugreifen konnte, war im Vorteil. Das haben wir sehr stark bei unseren Kunden in Europa & den USA gesehen.

Zu den Verlierern zählen bestimmte Anbieter, die stark abhängig von ihren Ladengeschäften sind. Dazu zählen auch die Modehändler: Eine Erfahrung aus 2020 ist, dass man im Home-Office selten Business-Kleidung trägt und der Bedarf an neuer Kleidung erst einmal nachlässt. „Work from Home“ hat den Umsatz im Einzelhandel durch weniger Einkäufe beeinflusst und die Nachfrage für bestimmte Produkte sinken lassen.

Was können wir daraus lernen?

Im Handel hat Corona zu einem massiven Digitalisierungsschub geführt, auch auf Konsumentenseite. Fast jeder kann nun mit dem Smartphone bezahlen oder QR-Codes nutzen. Standardabläufe und -methoden aus dem E-Commerce ziehen noch schneller in den stationären Handel ein. Das bestätigt unsere Geschäftidee, die Teil des Geschäfts von NewStore ist: Wie können Marken und Händler ihre Ladengeschäfte noch enger mit dem Online-Geschäft verzahnen – und umgekehrt.

Marcus Diekmann, Geschäftsführer Rose Bikes

Wie war das „Corona-Jahr“ 2020 aus Handelsperspektive?

Ein Jahr der gemischten Gefühle: Menschen werden krank, Menschen sterben. Der Lockdown im Frühjahr hat uns alle überrumpelt. Wirtschaftlich für viele eine Katastrophe, viele Handelssegmente wie Travel, Fashion und Co. leiden darunter stark. Zeitgleich konnten Branchen wie Gartenmöbel, Fahrräder und allgemein der E-Commerce stark von einem Wachstumsschub partizipieren.

Was können wir daraus lernen?

Der Handelsmarkt wird sich durch Corona schneller sondieren und den starken Wandel der letzten Jahre noch weiter beschleunigen. Es zeigt sich aber auch sehr deutlich, dass wir in Deutschland kein Problem mit der Digitalisierung haben – die Lieferketten zum Kunden und auch Technologien sind da – sondern wir eher ein Problem mit der fehlenden Weiterentwicklung von Geschäftsmodellen haben.

Mein persönlich wichtigstes Learning ist, dass der deutsche Einzelhandel endlich gemeinsam handelt. Die Branche hat verstanden, dass nicht jeder alles alleine machen muss, sondern wir alle uns schneller weiterentwickeln können, wenn wir uns branchenübergreifend austauschen und gemeinsam voneinander lernen. Und wir sind in der Lage, dem Handel gemeinsam eine noch stärkere Stimme zu geben, wie das zum Beispiel mit unserer Pro-Bono-Initiative Händler helfen Händlern passiert.

Xenia Giese, Industry Executive Retail & Consumer Goods, Microsoft Deutschland

Wie war das „Corona-Jahr“ 2020 aus Handelsperspektive?

Die zeitweisen Zwangsschließungen im Frühjahr und andauernden Kontaktbeschränkungen infolge der Corona-Pandemie haben das bisher gewohnte stationäre Geschäft ordentlich ins Wanken gebracht und stellten sowohl Händler als auch Konsumenten vor eine große Herausforderung. Als direkte Folge erlebt der Onlinehandel bis heute einen historischen Boom. Aber auch im stationären Handel hat sich die Dynamik der Digitalisierung durch Corona noch einmal erhöht. Digitale Lösungen rücken verstärkt in den Fokus, die kontaktloses oder kontaktarmes Einkaufen ermöglichen – vom Self-Scanning über Self-Checkout bis zum Self-Payment. Insgesamt gibt es im Erleben des Corona-Jahres 2020 zweifelsohne einen großen Unterschied aus Sicht der systemrelevanten und der nicht-systemrelevanten Händler.

Was können wir daraus lernen?

Der erste Lockdown hat uns deutlich vor Augen geführt, dass die Digitalisierung im Handel für alle Segmente überlebensnotwendig geworden ist. Im Fokus stehen seitdem insbesondere hybride Vertriebskanäle – wie z. B. Click & Collect, um physische Kontakte in den Filialen zu minimieren. Im zweiten Lockdown setzt sich vor allem die Erkenntnis durch, dass Ladengeschäfte durch die Verknüpfung mit digitalen Touchpoints künftig mehr anbieten müssen als den reinen Verkauf von Produkten. Zwar wurde das digitale Einkaufserlebnis am POS bereits vor Corona ein immer stärkeres Thema, mit dem sich viele Händler auseinandergesetzt haben. Doch gerade jetzt wird deutlich, wo es noch Defizite gibt. Nach wie vor gehört es zu den großen Herausforderungen des Handels, Marken- und Einkaufserlebnis zwischen der physischen- und Onlinewelt zu vernetzen, es emotional und funktional zu erweitern. Auch hier bieten digitale Lösungen wertvolle Unterstützung.

Dirk Hörig, CEO commercetools

Wie war das „Corona-Jahr“ 2020 aus Handelsperspektive?

Aus ökonomischer Sicht war 2020 für uns als Hersteller einer modernen E-Commerce-Software ein erfolgreiches Jahr, mit dem wir selbst und auch unsere Investoren sehr zufrieden sind. Dennoch hätten wir sowohl aus gesundheitlicher und gesellschaftlicher, aber auch aus unternehmerischer Perspektive gut darauf verzichten können. Auch wenn die Pandemie die Digitalisierung regelrecht befeuert hat, indem sie die enormen Lücken gerade in Bildungs- und Verwaltungssystemen offen gelegt hat und diese Bereiche quasi zur Modernisierung gezwungen hat, ist der Preis, den wir alle dafür zahlen, definitiv zu hoch.

Das gilt sowohl für die menschliche als auch für die Business-Perspektive, denn neben den erschreckenden Infektionszahlen gibt es auf allen Ebenen mehr Verlierer als Gewinner, auch im Handel: Viele Offline-Modelle waren nicht mehr tragfähig, Ladenmieten waren im Vergleich zur Marge überteuert und digitale Strategien zur Kundengewinnung und Kundenbindung fehlten oft ganz. Hier sehen wir jetzt eine rasante Veränderung im Markt.

Als Anbieter einer E-Commerce-Software mögen wir vielleicht mittelfristig davon etwas stärker profitieren, aber auch wir haben 2020 Irritationen gesehen. Da wir in Teams arbeiten, die weltweit verteilt sind, war für uns die Umstellungen auf Homeoffice und Remote-Prozesse einfacher als für einige unserer Kunden, die Einkaufs- und Vertragsprozesse erst einmal digitalisieren mussten. Dazu mussten noch Budgets und Marktprognosen neu gestaltet werden.

Wir wissen, dass wir uns in dieser Krise sehr glücklich schätzen können, dass wir zufällig in einer „robusten“ Branche sind und uns dazu noch sehr gut weiterentwickeln konnten. Natürlich sehen uns aber verbunden mit allen anderen Marktteilnehmern, die hier im negativen betroffen sind.

Was können wir daraus lernen?

Es ist schwierig, für komplett unvorhersehbare Ereignisse im Vorfeld Maßnahmen zu ergreifen. Das wäre so, als ob wir versuchen würden, die ökonomischen Auswirkung eines Asteroideneinschlags vorherzusehen.

Wie so häufig bei nur bedingt vorhersehbaren Veränderungen sind meist diejenigen an besten aufgestellt, die sich schnell an die neue Situation anpassen beziehungsweise deren Geschäftsmodell sich entsprechend verändern lässt. Die Klage „Hätten wir mal mehr in unseren Webshop investiert“ wird der Sache nicht gerecht, denn als Händler für Reisegepäck oder Bademode wäre die Nachfrage in 2020 trotz einer erstklassigen E-Commerce-Expertise nicht sonderlich hoch gewesen. Entscheidend ist hier, dass die gesamten Organisationen, die Geschäftsmodelle und auch die IT/Software so flexibel sind, dass sie sich wie Lego-Steine stetig neu zusammensetzen lassen. Einige Unternehmen sind beispielsweise sehr früh in die Produktion von Masken eingestiegen und konnten so das Jahr gut überbrücken. Dennoch muss die Digitalisierung weitergehen, vor allem auch außerhalb des Handels in Bildung, Verwaltung und Gesundheitswesen.

Sebastian Rieder, Co-Founder & CEO Betafashion

Wie war das „Corona-Jahr“ 2020 aus Handelsperspektive?

Das Jahr 2020 war eine Achterbahnfahrt der Gefühle, von Zuversicht, Verzweiflung bis Hoffnung. 2020 begann für Viele als ein Hoffnungsjahr, aus dem man gestärkt herausgehen wollte und viel Neues plante. Von Januar bis März war die Zuversicht auf einen glimpflichen Ausgang der Geschehnisse noch groß, keiner hatte eine Vorstellung, was da kommen würde. Als es dann zum „Handels-Lockdown“ kam, war die Verzweiflung bei vielen der Treiber. Der Handel musste schmerzlich erfahren was es bedeutet von einem Kanal abhängig zu sein. Ein bisher vermeintlich sicheres Geschäftsmodell stand still.

Die Hoffnung entflammte durch die Kreativität der Händler neue Wege zu gehen, Hilfspakete der Regierung, aber nicht zuletzt auch durch einen starken ramp-up im Sommer. Dies sollten wir nicht vergessen und mit Zuversicht, Kreativität und dem Willen, neue Wege zu gehen, in das nächste Jahr starten.

Was können wir daraus lernen?

Die Learnings sollten ganz klar sein:

  • Sei flexibel, hinterfrage und passe Dein Geschäftsmodell ständig an.
  • Nichts ist sicher und bleibt, wie es ist, denn Wandel ist etwas Gutes.

Haben Sie bereits die Antworten anderer Branchenexperten auf unsere Fragen zum Corona-Jahr 2020 und Learnings für die Zukunft gelesen? Hier finden Sie Teil 1 mit Antworten u.a. von ECE-Geschäftsführerin Joanna Fisher und Retail-Experte Wolf-Jochen Schulte-Hillen und hier einen Teaser mit Antworten der Pflanzenhändlerin Zelda Czok.


Newsletter abonnieren

Abonnieren Sie den kostenlosen Newsletter von Location Insider. Wir liefern darin täglich gegen 11 Uhr business-relevante Hintergründe zur Digitalisierung des Handels.

Hiermit akzeptiere ich die Datenschutzbestimmungen.

Artikel teilen