What’s hot in Fashion: Mode virtuell anprobieren
von Florian Treiß am 23.August 2023 in News, Trends & AnalysenDie Modebranche steht unter Druck, wie die Insolvenzen der Traditionsunternehmen Peek & Cloppenburg Düsseldorf und Gerry Weber zeigen. Selbst ein Online-Player wie Zalando spürt in Zeiten hoher Inflation die gedämpfte Kauflaune seiner Kundinnen und Kunden – und musste im 2. Quartal 2023 einen Umsatzrückgang von 2,5 Prozent verkraften. Umso wichtiger ist es für die Branche, auf digitale Innovationen zu setzen, um das Einkaufserlebnis zu verbessern. Einer der heißesten Trends: Die virtuelle Anprobe.
Auch wenn die Modebranche in Krisenstimmung ist – dass Fashion die Menschen weiter bewegt, zeigt ein Blick auf Instagram, TikTok oder YouTube: Dort präsentieren Influencer, aber auch private Nutzerinnen der Plattformen, welche Kleidung sie tragen und von welchen Marken diese stammt. Immer beliebter werden dabei sogenannte Haul-Videos, bei denen Menschen zeigen, welche Produkte sie sich beim Shopping geschnappt haben. Auch wenn solche Haul-Videos keine ganz neue Erfindung sind und man solche Videos auch von Streifzügen durch den stationären Handel findet, so hat doch eine bestimmte Kombination in letzter Zeit ziemliche Berühmtheit erlangt: Haul-Videos von Bestellungen beim chinesischen Fast-Fashion-Onlinehändler Shein, die vor allem über TikTok verbreitet werden. Auch wenn solche Videos in der Kritik stehen, weil sie Überkonsum feiern, so sind diese zweifellos ein Trend, der die Modebranche aufgerüttelt hat.
Mode mit höchster Retourenquote
Dabei werden längst nicht jedem Online-Modehändler virtuell die Türen eingerannt – und viele Unternehmen würden sich freuen, wenn ihre Produkte so massenhaft wie bei Shein gekauft würden. Selbst wenn die Produkte bestellt sind, so gibt es keine Garantie, dass Kunden sie auch behalten: Bekleidung ist mit Abstand die Produktkategorie mit den höchsten Retourenquoten.
Ein besonders prominentes Beispiel ist Zalando, das auf seiner Website einräumt, dass im Durchschnitt 50 Prozent der bestellten Artikel zurückgeschickt werden. Doch wenn jedes zweite Produkt zurückgeschickt wird, ist das angesichts der weiten Transportstrecken in keinerlei Hinsicht nachhaltig. Obendrauf sind Retouren eine massive Belastung für die Kostenstruktur von Zalando, selbst wenn das Unternehmen jahrelang den Ansatz vertrat, dass die Kundinnen und Kunden die Produkte im Grunde nur zur Anprobe nach Hause bestellen und dann frei entscheiden können, ob sie diese behalten wollen oder nicht. Dies sagte zum Beispiel der damalige Deutschlandchef Moritz Hau vor sechs Jahren auf dem ECC-Forum in Köln:
Unvergessen auch ein Dialog mit Zalando-Chef Robert Gentz zum Thema aus einem Interview mit der Schweizer „Handelszeitung“ Ende 2016:
Handelszeitung: Jeder Controller würde hier Optimierungspotenzial wittern: Könnte man die erschreckend hohe Retourenquote nur um ein halbes Prozentchen verbessern, würde sich das bestimmt in klingender Münze auszahlen für das Unternehmen, oder etwa nicht?
Robert Gentz: „Gegenfrage: Würden Sie sich als Manager einer H&M-Filiale an die Umkleidekabine stellen und den Kunden sagen, sie müssten mindestens 50 Prozent der Teile, die sie anprobieren, wirklich kaufen, ansonsten dürften sie die Sachen gar nicht mit hineinnehmen?“
Handelszeitung: Würden wir nicht. Wobei es da einen kleinen Unterschied gibt: Vom Kleiderständer bis zur Umkleidekabine sind es bei H&M 12 Meter. Von Ihrem Lager im baden-württembergischen Lahr bis nach Schaffhausen sind es 120 Kilometer.
Robert Gentz: „Wir wollen ja gerade, dass Kunden die Kabine nach Hause verlegen. Deshalb hat es keinen Sinn, irgendeine Beschränkung einzuführen.“
Handelszeitung: Sie sagen, je mehr Retouren, desto besser?
Robert Gentz: „Ich sage: Je besser die Auswahl für den Kunden ist, desto besser für ihn und uns. Wir investieren in alles, was dem Kunden ermöglicht, eine optimale Auswahl zu haben und die beste Wahl zu treffen.“
Die hohe Retourenquote für Mode ist dabei einerseits durch die Größenproblematik geprägt, also weil ein Kleidungsstück nicht richtig passt. Oftmals ist der Grund für eine Retoure aber auch, dass es den Kunden nicht gefällt – z.B. weil die Produktdarstellung im Web anders war, als das Produkt „in echt“ aussieht und sich anfasst.
Online-Händler und Marken setzen daher große Hoffnung auf eine virtuelle Anprobe, auf Englisch Virtual Try On genannt, eine Technologie, die allerdings noch in den Kinderschuhen steckt. Sie ermöglicht die virtuelle Anprobe von Kleidung, Brillen, Make-Up oder Accessoires wie Handtaschen. Auch Amazon testet die virtuelle Anprobe bereits, und zwar für Schuhe. Per Smartphone oder Computer lassen sich dabei die Produkte bequem zu Hause oder unterwegs testen. Dabei gibt es grundsätzlich zwei verschiedene Varianten.
Augmented Reality projiziert Kleidung auf den Körper
Ein Teil der Verfahren arbeitet mit dem Live-Kamerabild des Kunden: Dabei wird das Kleidungsstück per Augmented Reality (AR) auf den Körper des Kunden projiziert, so dass der Kunde es in Echtzeit sehen kann. Dank der AR-Technologie kann der Kunde das Produkt von allen Seiten betrachten, sich umsehen und bewegen, um zu sehen, wie es sich anfühlt. In einigen Fällen kann der Kunde sogar die Farbe oder das Muster des Kleidungsstücks ändern, um verschiedene Optionen auszuprobieren.
Diese Technologie hat in den letzten Jahren vor allem die Social-Media-App Snapchat vorangetrieben – und stellt sie seit dem Frühjahr mit dem neuen Geschäftsbereich ARES auch für Apps und Website von Händlern und Marken bereit. Bestandteil der Lösung sind auch Größenempfehlungen, die von der einst durch Snapchat übernommenen Berliner Firma Fit Analytics stammen. Zu den ersten ARES-Kunden zählt der amerikanische Sonnenbrillen-Anbieter Goodr. „Die Implementierung der Shopping Suite von Snap, insbesondere AR Try-On und 3D Viewer, führte zu einem überwältigend positiven Feedback unserer Kunden und zu einem beträchtlichen Anstieg der Verkäufe, wodurch die Lücke zwischen den Erwartungen unserer Kunden und dem tatsächlichen Aussehen ihrer Waren geschlossen wurde“, wird Goodr-CEO Stephen Lease in einer Kundenreferenz auf der Website von ARES zitiert.
Eine andere Variante der virtuellen Anprobe ist die Verwendung von Avataren. Dafür geben Kunden zunächst ihre Größe, ihr Gewicht und ihr Geschlecht ein sowie ggf. noch weitere Körpermerkmale. Anschließend können die Produkte mit Hilfe des Avatars anprobiert werden – ein Verfahren, das zum Beispiel Zalando seit Frühjahr für ausgewählte Kleidungsstücke testet. Voraussetzung für die virtuelle Anprobe ist dabei stets, dass 3D-Bilder und -Daten des Produkts vorliegen müssen. Das ist aber bislang noch längst kein Standard in der Modebranche. Daher wünscht sich z.B. Zalando, dass die Modehersteller 3D-Designsoftware und digitale Workflows für die Produktion von Kleidung einführen. Dabei entstehen 3D-Versionen der Produkte. „Das ist eine wichtige Voraussetzung, um eine virtuelle Umkleide in großem Maßstab einführen zu können“, sagt Stacia Carr, VP Size and Fit bei Zalando.
Besseres Gefühl fürs Produkt
Einer der zentralen Vorteile: Eine virtuelle Anprobe kann dem Kunden dabei helfen, sich besser vorzustellen, wie das Kleidungsstück an ihm aussieht und wie es sich anfühlt. Virtuelle Anproben können auch dabei helfen, die Größe und Passform eines Kleidungsstücks besser zu beurteilen Denn letztlich scheitern viele Online-Bestellungen daran, dass Kunden erst nach Erhalt des Pakets des Händlers zu Hause feststellen, dass ein Kleidungsstück nicht passt. Das führt zu einer hohen Retourenqoute im Online-Modehandel.
Die virtuelle Anprobe kann dabei zu einer Win-Win-Situation für Kundinnen und Händler führen: Die Kundinnen bekommen ein besseres Gefühl, ob das Produkt ihnen steht und müssen zum Beispiel nicht mehr mehrere Produkte, Farben und Größen nach Hause bestellen, um sie dann „in echt“ anzuprobieren. Umgekehrt sinkt dadurch im Idealfall auch die Retourenqoute – Kunden ersparen sich also den Aufwand, Produkte zurückzusenden, die Umwelt wird durch weniger Transportwege geschont und die Kosten für Retouren beim Händler werden deutlich reduziert.
Auch wenn die virtuelle Anprobe bislang wenig verbreitet ist und selbst ein großer Online-Händler wie Zalando eine virtuelle Anprobe nur als Pilotprojekt für einige wenige Produkte anbietet, so stößt das Thema doch auf Interesse bei vielen Menschen: Das zeigt eine Umfrage des Digitalverbands Bitkom von Jahresanfang. Demnach haben 9 Prozent der Online-Shopper in Deutschland die virtuelle Anprobe schon mindestens einmal genutzt, weitere 36 Prozent können es sich vorstellen.
AR-Spiegel für stationäre Läden
Auch für den stationären Handel kann die virtuelle Anprobe übrigens interessant sein: So gibt es mittlerweile auch spezielle AR-Spiegel für den Handel, an denen Kunden die Produkte virtuell anprobieren können, ohne in die echte Umkleidekabine zu müssen, wie etwa bei einer Filiale des US-Labels Coach in New York (siehe Bild). Die Technologie stammt von der AR-Plattform Zero10 und ermöglicht eine virtuelle Anprobe der beliebten Tabby-Handtaschen von Coach, und zwar in einer Vielzahl von Farben. Kund*innen, die dadurch in den Laden gelockt werden, können dort das Einkaufserlebnis an einem weiteren virtuellen Spiegel fortsetzen, dort auch Fotos machen und diese via Social Media teilen.
Und auch in manchen Beauty-Läden wie etwa in ausgewählten Filialen von Sephora gibt es spezielle AR-Spiegel, auch Magic Mirror genannt, an denen Kundinnen verschiedene Make-Ups virtuell an sich ausprobieren können. Wie das funktioniert, zeigt das Video oben. Das verleiht dem stationären Einkauf auch gleich noch ein ganz besonderes Hightech-Erlebnis.
Whitepaper
Dieser für die heutige Veröffentlichung aktualisierte Beitrag erschien zuerst in unserem Whitepaper „Retail Trends 2023: Wie Künstliche Intelligenz, Social Commerce & Co den Handel verändern“. Wir zeigen darin mit freundlicher Unterstützung von commercetools, der weltweit führenden Plattform für digitalen Handel, wie vielseitig die aktuellen Entwicklungen bei Technologie und Konsumverhalten sind. Dabei geht es u.a. um Live Shopping, virtuelle Anproben, Omnichannel-Handel und Phygital Retail. Wichtig jetzt und in Zukunft: Händler und Marken sollten Kunden dort abholen, wo sie shoppen wollen – und das sind zunehmend moderne Touchpoints wie Social Media, Chatbots, Sprachassistenten oder virtuelle Welten.
Die Themen des Whitepapers im Überblick:
- Wie sich Shopping in den nächsten Jahren verändert: die aktuellen Retail-Trends
- „Fight, fly or freeze“: Umfrage zu aktuellen Retail-Trends
- Omnichannel & Phygital Retail: Wie die Kanäle smart verbunden werden
- Die Modernisierung der digitalen Plattform von Treedom: eine Erfolgsgeschichte
- Personalisierte Einkaufserlebnisse, virtuelle Anproben, Social Commerce und Live Shopping
- Wie der Handel mit künstlicher Intelligenz seine Prozesse und das Kundenerlebnis verbessert
- Metaverse: Neues Potenzial für den Digital Commerce
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